Ambitionierte Gesundheitsreformer waren traditionell dazu verdammt, sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorzustellen. Die Corona-Krise veränderte diese frustrierenden Vorzeichen. „Plötzlich wurde vieles möglich. Es wäre nicht sinnvoll, in alte Strukturen zurückzufahren“, erkennt Alexandra Kofler, Ärztliche Direktorin der Tirol Kliniken, eine zukunftsweisende Sinnhaftigkeit in der aktuellen Dramatik. Von Alexandra Keller
Wer derzeit mit sanfter Stimme davon spricht, dass in jeder Krise eine Chance steckt, lebt durchaus gefährlich. Zu existenziell sind für zu viele Menschen die Auswirkungen des Lockdowns und zu ungewiss ist die Zukunft, als dass das Licht am Ende des Corona-Tunnels hoffnungsfrohe Kreativität auszulösen vermag. Die Spielarten der individuellen Wirkungen sind so vielfältig wie die Individuen selbst. Die strukturellen Wirkungen des Ausnahmezustandes könnten jedoch bislang ungeahnte beziehungsweise für unmöglich gehaltene Dinge in Bewegung setzen – vor allem dort, wo die akute Ohnmacht scharfe Zähne zeigt.
Das tat und tut sie im Pflegebereich, wo die wackeligen österreichischen Lösungen etwa im Zusammenhang mit den 24-Stunden-Betreuerinnen aus Europas Osten fast zusammengebrochen sind, weil das Virus die rostigen Grenzbalken aktivierte und die Einreise dieser essenziellen Systemstützen verhinderte. Aus Furcht vor Maßnahmen, die den Pflege-Fleckerlteppich des Landes noch komplizierter, unübersichtlicher und bürokratischer zu machen drohten, legte das Hilfswerk Österreich den Finger auf die nicht gegen das Virus, wohl aber gegen große Reformen resistente rotweißrote Wunde. Das Hilfswerk ist einer der führenden Anbieter von Pflegedienstleistungen aller Art, Elisabeth Anselm ist die Geschäftsführerin und vor der April-Sitzung des Nationalrates richtete sie einen Appell an alle Fraktionen „der dringend notwendigen Gesamtreform des heimischen Pflegesystems nicht mit überhasteten Einzelmaßnahmen vorzugreifen“. Am 22. April 2020 sprach sich der Nationalrat denn auch für eine „breite Pflege-Reformdebatte“ aus. Konkret gelte es den Fachkräftemangel und die Kompetenzverteilung und Finanzierung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden zu lösen. Konkreter wurde über die Pflegereform allerdings noch nicht diskutiert. Im Zusammenhang mit der Versorgung der Pflegebedürftigen konzentrierte sich der alarmierte lösungsorientierte Blick weiterhin gespannt auf Korridorzüge aus Rumänien, der Slowakei, Ungarn und anderen Nachbarländern, wo jene knapp 70.000 Pflegekräfte zu Hause sind, deren Schultern diesen schweren Systembrocken weiterhin tragen. Auch in der akuten psychosozialen Notsituation, in der Personen mit Pflegebedarf massiven gesundheitlichen Belastungen und Gefahren ausgesetzt sind.
Notwendige Flexibilität. Ambitionierte österreichische Reformer waren schon traditionell dazu verdammt, sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorzustellen, um nicht von der beharrenden bürokratischen Starre in die Verzweiflung getrieben zu werden. Das gilt für Pflegereformer genauso wie für Gesundheitsreformer, die im zermürbenden Kampf gegen Pfründe verteidigende Lobbyisten Millimeterschritte mit Champagner feiern durften. „Derartig starre, hierarchische und auf berufsständischen Interessen aufgebaute Organisationen sind nur noch in wenigen sozialen Systemen in derartiger Ausprägung zu finden“, hatte Peter Huber, Pflegedirektor der Kreisklinik Ebersberg in Oberbayern, die Krankenhaussysteme und ihre strukturell bedingte Reformresistenz recht trefflich beschrieben.
Von „unendlichen täglichen Hürden, die vieles verunmöglichen oder ewig in die Länge ziehen“, spricht in dem Zusammenhang auch die Ärztliche Direktorin der Tirol Kliniken, Alexandra Kofler. Mit der Bedrohung durch Covid-19 beziehungsweise der Notwendigkeit, die Tiroler Landeskrankenhäuser – allen voran das Landeskrankenhaus Innsbruck – für die viralen Gefahren zu rüsten, übernahm die Ärztliche Direktorin das Kommando. In militärisch anmutender Stabsarbeit galt es, das große Haus in den Krisenmodus zu versetzen und Umständen anzupassen, deren Ende noch nicht in Sicht ist. „Plötzlich waren Dinge, die man vorher schon ins Auge gefasst hatte und immer wieder umzusetzen versuchte, ganz schnell umsetzbar. Das ging innerhalb von drei Tagen“, berichtet Alexandra Kofler, die durchaus erstaunt darüber war und zu dieser Erfahrung festhält: „Sonst musst du dich abplagen, damit du ein bisschen was ins Rollen bringst und plötzlich geht das. Und siehe da, es funktioniert gut.“
Zuvor unüberwindbare Zäune wurden eingerissen und die Klinik-Claims, die damit gesteckt worden waren, begannen im Sinne eines großen Ganzen zu verschwimmen. Die Notsituation erforderte maximale Flexibilität und das Ergebnis konnte sich sehen lassen. „Das hat in Österreich und Tirol gut funktioniert. Jetzt weiß man, dass es geht, wenn es sein muss“, stellt Kofler nicht nur im Hinblick auf das österreichische Gesundheitswesen fest, das sich in dieser Akut-Situation bewährte.
Die Ärztliche Direktorin geht davon aus, dass die strukturellen Lehren dieser Zeiten auch die Planungen für die langfristige Zukunft des Systems beeinflussen müssen. „Ich glaube, der Regionale Strukturplan Gesundheit und ähnliche Strategiepapiere müssen jetzt von einer ganz anderen Seite her betrachtet werden. Nicht, indem ich irgendwelche Betten-Kontingente festschreibe, sondern indem ich beispielsweise Stationen plane, die in drei Tagen zu einer Intensivstation umfunktioniert werden können“, so Kofler, „Da muss sich einiges verändern. Man muss es flexibler machen, damit man es auch flexibler bewirtschaften kann.“
Kofler ist zutiefst von der Sinnhaftigkeit gemeinsamer, also die Grenzen der einzelnen Kliniken oder Abteilungen überschreitender Bereiche überzeugt, doch war sie in diesbezüglichen Verhandlungen vielfach mit starker Gegenwehr konfrontiert. Im traditionell so linearen wie hierarchischen Klinik-System ist es ja ebenso Tradition, dass keiner etwas hergeben will. „Jetzt haben wir es uns genommen und werden es vielleicht nicht mehr hergeben. Mal schauen“, stellt Kofler mit einem gewissen Augenzwinkern fest und sagt: „Wenn wir klug und stark genug sind, müssen wir das jetzt als Chance nehmen und uns überlegen, ob es tatsächlich sinnvoll wäre, in alte Strukturen zurückzufahren. Das glaube ich nicht.“
Gutes nach der Krise belassen. Corona und die neuen Zeiten halten die Begehrlichkeiten im Zaum, und weil ein Ende der Ausnahmesituation noch nicht abzusehen ist, stehen die Chancen nicht allzu schlecht, dass in der plötzlichen Berechtigung zur Veränderung eine strukturelle Nachhaltigkeit steckt. Das betrifft nicht zuletzt den niedergelassenen Bereich, der auch im Zuge der geschlossenen Spitalsambulanzen eine starke Schlüsselrolle spielen muss, was dem diesbezüglichen Forderungspapier des Österreichischen Gemeindebundes die notwendige Schwere verschafft. „Hier geht es darum, den niedergelassenen Bereich zu modernisieren und an die neue Generation an Ärzten anzupassen, beispielsweise durch eine Reform der Kassenverträge, die für viele junge Ärzte unattraktiv sind, etwa hinsichtlich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, verweist Gemeindebund-Präsident Alfred Riedl auf das Papier, dessen Aktualität aktuell befeuert wird.
Breite gesundheitspolitische Einigkeit herrscht auf allen Ebenen darüber, dass an der zuvor so oft in Frage gestellten, weil teuren Zahl der Spitals-Betten nicht gerüttelt wird. Die Betten in Privatspitälern nicht eingerechnet, gibt es in Österreich 44.183 Spitalsbetten, 2.451 davon sind Intensivbetten, deren Existenz für das Schicksal von Covid-19-Patienten entscheidend sein können. „Im Vergleich zu anderen Ländern zeigt sich, dass es sich lohnt, für diesen Bereich viel Geld in die Hand zu nehmen. Reformbestrebungen, wie Schließungen von Bezirksspitälern, wird damit der Wind aus den Segeln genommen“, stellt der Tiroler Gemeindeverbands-Präsident Ernst Schöpf dazu fest. Peter Bußjäger, Direktor des Institut für Föderalismus, kann dies nur unterstreichen und sagt: „Jedenfalls ist die alte ‚Gesundheitsreform‘, die darauf abzielte, Spitalsbetten einzusparen und Spitäler zu schließen, auf Jahre hinaus vom Tisch.“
Möglich, dass im Gesundheitsbereich eine zukunftsweisende Sinnhaftigkeit in der aktuellen Dramatik geortet werden kann. Greifen die Corona-Lehren, dürfen sich auch ambitionierte Gesundheitsreformer freuen, wären sie doch plötzlich nicht mehr dazu verdammt, sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorzustellen. Das war er nämlich nicht.