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Dass die Corona-Pandemie die Stärken und Schwächen des österreichischen Gesundheitswesens offenlegte, ist kein Geheimnis. Unter völlig neuen Voraussetzungen musste völlig neu gedacht und gehandelt werden. „Die Pandemieerfahrungen müssen einen Einfluss auf die Gesundheitsreform haben“, stellt Christian Stöckl klar. Ein Zurück zum Alten ist undenkbar. von Alexandra Keller
Plötzlich waren Dinge, die man vorher schon ins Auge gefasst hatte und immer wieder umzusetzen versuchte, ganz schnell umsetzbar. Das ging innerhalb von drei Tagen. Sonst musst du dich abplagen, damit du ein bisschen was ins Rollen bringst und plötzlich geht das. Und siehe da, es funktioniert gut“, hatte Alexandra Kofler, Ärztliche Direktorin der Tirol Kliniken, vor ziemlich genau einem Jahr gegenüber public festgestellt. Die Corona-Pandemie hatte gerade das ganze Land auf den Kopf und die Krankenhäuser vor gigantische Herausforderungen gestellt. Diese überraschende Akutsituation verlangte nach starken Schritten und Alexandra Kofler betonte: „Es wäre nicht sinnvoll, in alte Strukturen zurückzufahren. Ich glaube, der Regionale Strukturplan Gesundheit und ähnliche Strategiepapiere müssen jetzt von einer ganz anderen Seite betrachtet werden. Nicht, indem ich irgendwelche Betten-Kontingente festschreibe, sondern indem ich beispielsweise Stationen plane, die in drei Tagen zu einer Intensivstation umfunktioniert werden können.“
Flexibilität ist notwendig. Seit über einem Jahr arbeiten die österreichischen Spitäler unter Corona-Vorzeichen und die Erkenntnisse der ersten Wochen haben sich verfestigt: Um die Häuser und Einrichtungen flexibel bewirtschaften zu können, müssen sie grundlegend flexibel gestaltet werden. Um sie für die neuen Voraussetzungen zu rüsten. Beziehungsweise die Zukunft.
Bislang prallte im österreichischen Gesundheitswesen jede Form der Flexibilität an ihrer Komplexität und den darin verwirrend verwobenen Partikularinteressen der Stakeholder ab.
Die starke Fragmentierung des Systems und die teils undurchschaubare Finanzierung stellte jedenfalls nur selten den Patienten und seine bestmögliche Versorgung in den Mittelpunkt. In der Pandemie konzentriert sich die volle Aufmerksamkeit vor allem auf jene Covid-Patienten, die intensivste Versorgung benötigen. Dabei wurde und wird Großes geleistet. Doch deutet der Zeigefinger, der mit den Erfahrungen gewachsen ist, auf viele Wunden des Systems. Und fordert zum Umdenken auf.
Gutes beibehalten. „Die Pandemieerfahrungen müssen einen Einfluss auf die Gesundheitsreform haben, das bedeutet, dass sowohl der ÖSG – also der Österreichische Strukturplan Gesundheit – als auch die RSG – die Regionalen Strukturpläne Gesundheit – entsprechend adaptiert und die Erfahrungen aus der Pandemie eingearbeitet werden müssen“, sagt etwa Christian Stöckl, Landeshauptmann-Stellvertreter und für die Gesundheitsagenden zuständiges Regierungsmitglied des Landes Salzburg. In Salzburg wurden in den Zwängen der Krise beispielsweise die Fondsspitäler intensiv mit den privaten Krankenhäusern und den Reha- und Kureinrichtungen vernetzt. Patientinnen und Patienten der öffentlichen Häuser werden früher als üblich von den Reha- und Kureinrichtungen zur Nachversorgung auf- beziehungsweise übernommen. „Einige Privatspitäler stellen zeitweise ihre Operationssäle und das benötigte Pflegepersonal insbesondere für elektive Eingriffe zur Verfügung. Durch diese hervorragende Zusammenarbeit konnte der Regelbetrieb in den Fondsspitälern unterstützt und Wartezeiten abgebaut werden“, berichtet Stöckl aus einer gänzlich neuen Spitalswelt, von der sowohl Patienten wie die Einrichtungen selbst profitieren.
Und das – wenn es nach Stöckl geht – ohne „pandemisches“ Ablaufdatum. Weiterhin gibt es wöchentliche Abstimmungssitzungen der Medizinerinnen und Mediziner wie der Mitarbeiter der Verwaltungen, in vielen Bereichen ziehen die Salzburger Häuser an einem Strang. „Zudem gab es einen Innovationsschub, vor allem bezüglich elektronischer Dienstleistungen, wie etwa E-Ambulanzen.
Daher haben wir das Jahr 2021 für die SALK (Salzburger Landeskliniken – Anm.) zum Jahr der Digitalisierung ausgerufen, um die positive Entwicklung weiterhin mitzunehmen. Auch in Bezug auf Aus- und Weiterbildung und interdisziplinärer Zusammenarbeit hat sich durch COVID viel getan, ebenso im Bereich Hygiene, in dem viele Regelungen nachgeschärft wurden und von denen wir sicher noch profitieren werden“, findet LH-Stellvertreter Stöckl nur schwer ein Ende, um die Effekte der Pandemie zu beschreiben.
Zahlen und Kosten. Es ist bizarr, aber es ist eben so: Das Virus vermochte Dinge in Bewegung zu setzen, an denen sich Veränderungswillige bislang die Zähne ausgebissen haben. Und das Virus rückt auch zentralistische Sichtweisen zurecht. „Es ist enorm wichtig, die regionale Versorgung und damit verbunden den Erhalt der kleinen Spitäler weiterhin sicherzustellen beziehungsweise sogar auszubauen. Die jahrelange Forderung, unter anderem des Rechnungshofes, wonach die Akutbetten verringert werden sollten, muss überdacht werden“, bricht Stöckl eine Lanze für die Aufrechterhaltung kleinteiliger Strukturen, die sich in der Pandemie als höchst wertvoll erwiesen haben. Die Breitseite gegen den Rechnungshof, dessen purer Zahlenblick auf das System nicht breit genug zu sein scheint, sitzt jedenfalls.
Apropos Zahlenblick. Anfang Februar 2021 hat die Statistik Austria die Gesundheitsausgaben Österreichs des Jahres 2019 zusammengefasst und mit jenen anderer EU-Staaten innerhalb der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) in Relation gesetzt. „In Österreich wurde 2019 jeder zehnte Euro für die laufenden Gesundheitsausgaben aufgebracht. Der stationäre Bereich machte dabei mit 40,5 Prozent den größten Anteil aus. Im Vergleich der 22 EU-Mitgliedstaaten in der OECD lag Österreich bei den Gesundheitsausgaben auf dem vierten Platz, lediglich in Deutschland, Frankreich und Schweden waren die Ausgaben im Verhältnis zum BIP noch höher“, hielt Statistik-Austria-Generaldirektor Tobias Thomas fest. In konkrete Zahlen übersetzt, bedeutet das, dass die Gesundheitsausgaben einschließlich der Ausgaben für Langzeitpflege 41,48 Milliarden Euro betrugen, 72 Prozent der laufenden Gesundheitsausgaben wurden öffentlich finanziert und rund 12,57 Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln wurden für die Fondskrankenanstalten aufgewendet.
Zwar fällt immer mal wieder die kryptische Feststellung, dass zu viel Geld im Gesundheitssystem steckt und die Reformresistenz damit begründet werden müsste, doch darf erst einmal nicht davon ausgegangen werden, dass die Ausgaben in den kommenden Jahren sinken. Nicht ausschließlich wegen der möglicherweise anhaltenden Pandemiezustände. Doch auch sie erzwingen neue Budgetwege.
Die höchsten öffentlichen Ausgaben für Fondskrankenanstalten im Jahr 2019 wurden – wenig überraschend – in Wien verzeichnet. 3,51 Milliarden Euro sind im Statistik-Austria-Betrachtungsjahr in die Spitäler der Bundeshauptstadt geflossen, wo mit dem Wiener AKH das größte Krankenhaus Österreichs und eines der größten Krankenhäuser Europas „steht“. Rund 8.600 Mitarbeiter galt es dort zu Beginn der Pandemie zu beruhigen und zu versorgen. „In den ersten zwei Wochen der Pandemie wurde ein Jahresbedarf an Schutzmaterialien aufgebraucht“, erinnert sich Herwig Wetzlinger, Direktor des AKH.
Gleichsam über Nacht mit Ausfuhrbeschränkungen oder Ausfuhrverboten und dem dramatischen Mangel an Schutzmaterialien vor Ort konfrontiert, waren Flexibilität, Einfallsreichtum und Geschwindigkeit die Gebote der ersten Stunden. „Das war der Anlass, rasch neue Vertriebskanäle aufzumachen und andere Handelsbeziehungen herzustellen. Das ist innerhalb von Tagen und Wochen gegangen“, erzählt AKH-Direktor Wetzlinger. Als wichtige Teilunternehmung des Wiener Gesundheitsverbundes konnte der Spitalsriese seine Größe in die Waagschale legen, Logistik, Finanzierung und Warenkontrolle direkt am Umschlagplatz Shanghai organisieren und dafür die chinesische Nationalbank ICBC als Partnerin gewinnen.
„Je kleinteiliger die Logistik, umso nachteiliger und schwieriger ist es, die Versorgung in einer Krise korrekt sicherzustellen“, spricht Wetzlinger den Skalierungseffekt an, den der Wiener Gesundheitsverbund nutzte und gemeinsam mit der Wiener Rettung und dem Magistrat der Bundeshauptstadt eine Gesamtlogistik aufbaute. Wetzlinger: „Die Lehre aus der ersten Welle war, nicht mehr nur auf Handelsagenturen zu setzen, sondern zu schauen, wo die Produzenten sind und wie man es schafft, Vertriebskanäle direkt zu den Produzenten aufzubauen – unter Einhaltung der Regeln, die wir als öffentlicher Auftraggeber durch den Bund beziehungsweise das Vergabegesetz einhalten müssen.“
Die Beschaffung. Der Prozess, den Wetzlinger beschreibt, ist hochkomplex und verändert die Wege der „klinischen“ Einkaufswelt grundlegend. Wo zuvor Handelsagenturen alle notwendigen Schritte abwickelten und auf dem Weg alle notwendigen Fragen zu Qualitätssicherung, Zertifizierung und Finanzierung beantworteten, mussten die Klinik-Organisationen diesbezüglich einen Crashkurs absolvieren. Die erzwungene Lernkurve führte beim Wiener Gesundheitsverbund beispielsweise dazu, dass eine eigene Beschaffungsgesellschaft gegründet wurde, die sich um die Versorgung kümmert und darauf achtet, dass die Risiken beherrschbar bleiben.
Vor dem Hintergrund der Unsicherheiten auf den Beschaffungswegen hat sich die Lagerhaltung als eines der wichtigsten Mosaiksteinchen herauskristallisiert.
In allen Bundesländern wurden Corona-Notfall-Lager eingerichtet, um eine gesicherte Versorgung zu gewährleisten. In Wien wurde die temporäre Reichweite mit drei Monaten definiert. AKH-Direktor Wetzlinger dazu: „Es geht darum, dass man drei Monate im Vorhinein, aber in ständigem Umschlag lagert, sodass die Produkte zum Einsatz kommen.“
Und nicht durch langes Lagern unbrauchbar werden. Allein der Lagerbestand, den der Wiener Gesundheitsverbund in Aspern aufgebaut hat, hat einen Materialwert von rund 50 Millionen Euro. Die Reaktion auf den schlagartigen Anstieg des Verbrauches und die im Frühjahr so plötzlich unterbrochenen Lieferketten ist nicht billig.
Auch das ist ein Mosaikstein, der zwingend mitgedacht werden muss – bei der Neustrukturierung der österreichischen Gesundheitslandschaft. Die Pandemie hat deren Vorzeichen auf vielen Ebenen verändert. Und eines scheint klar. Ein Zurück zum Alten ist undenkbar.