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Die Frage: „Hat die EU bei der Corona-Pandemie versagt und was blieb eigentlich vom Green Deal übrig?“ Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Ja!“ – Aus dem Mund von Professor Andreas Maurer, Politikwissenschaftler an der Universität Innsbruck. Der Mann muss es wissen, seit Jahrzehnten lebt er in Brüssel, forscht zu den EU-Institutionen, kann die europäischen Verträge im Schlaf runterbeten.
Von Katharina von Tschurtschenthaler
Schon im vergangenen Jahr hat er dem europäischen Krisenmanagment ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Er bemängelte, dass die EU untätig dabei zugesehen hätte, wie die Mitgliedsstaaten auf die Krise mit nationalen Impulsen reagierten. Ein Jahr später ist seine Kritik nicht weniger drastisch. Dass die Kommission einfach tatenlos zugesehen hätte, als die Mitgliedsstaaten ihre Grenzen dicht machten, kann der Politikwissenschaftler nicht verstehen. „Die EU-Kommission hing an der Leine der Mitgliedsstaaten. Aus Brüssel kamen Empfehlungen – Empfehlungen! Anstatt eine Verordnung durchzusetzen. Die Personenfreizügigkeit ist ja eigentlich eine EU-Kompetenz.“ Aber corona-bedingt ist eben auch die Arbeit der europäischen Institutionen deutlich behindert – alles findet online statt, viele Beamte und Abgeordnete arbeiten von ihren Heimatländern aus. „Das erinnert mich ein bisschen an meine Studenten: Viele nutzen die Zeit gerade, um nix zu machen“, so Maurer mit einem Grinsen. Und so hätte jedes Mitgliedsland eben sein eigenes Süppchen gekocht – mehr noch, einzelne Bundesländer in den Mitgliedsstaaten haben in Sachen Anti-Corona-Maßnahmen eigenständig agiert. Und so entstand ein bunt gemusterter Flickenteppich, ein Wirrwarr an Regeln, die irgendwann selbst informierte Bürger nicht mehr durchblicken konnten. Die diversen Corona-Warn-Apps sind ein gutes Beispiel dafür, dass die europäische Zusammenarbeit während der Pandemie mehr als hapert. Weil jedes Land ein eigenes Programm aufgelegt hat, hat sich die App beim Grenzübertritt verabschiedet. „Telekommunikation ist eine EU-Kompetenz“, so Politologe Maurer. „Warum hat die EU nicht ein paar Millionen Euro in die Hand genommen und eine grenzüberschreitende App entwickelt?“, stellt Maurer die Frage.
Die Chance wurde nicht genützt. Nach einer Stunde Gespräch mit Andreas Maurer und seiner schonungslosen Kritik bleibt eines hängen: Die Pandemie hätte für die EU eine große Chance geboten, enger zusammenzuwachsen, und bei einigen Themen härter durchzugreifen. Doch diese Chance hat sie nicht ergriffen. Europa ist kleinteiliger geworden, auch bedingt durch die Tatsache, dass es auf einmal unmöglich war, problemlos durch die Union zu reisen – zum Teil selbst für Waren. Bilder von Grenzkontrollen, kilometerlange Staus durchzogen viele Monate lang die Nachrichten.
Auch beim Thema Impfstoffbeschaffung und der Verteilung des begehrten Guts wird der Brüsseler Behörde von vielen kein gutes Zeugnis ausgestellt. Warum hat es so lange gedauert, bis die EU-Kommission etwa mit den Herstellern Biontech und Pfizer einen Liefervertrag geschlossen hatte? Während die USA bereits im vergangenen Juli einen fertigen Vertrag auf dem Tisch hatte, hat sich Europa vier Monate länger Zeit gelassen.
Besonders laute Kritik an der Brüsseler Impfstrategie kam aus Österreich. Kanzler Kurz warf der EU vor, mit der Verteilung der Impfstoffe eine „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ zu schaffen, und forderte, die Dosen zur gleichen Zeit nach dem Bevölkerungsschlüssel anteilsmäßig auszuliefern – so wie es die Staats- und Regierungschefs Anfang des Jahres beschlossen hatten. Zusätzlich liegt Brüssel derzeit im Clinch mit dem britisch-schwedischen Hersteller AstraZeneca. Anstatt der 120 Millionen bestellten Dosen hatte der Hersteller im ersten Quartal nämlich nur 30 Millionen Dosen an die 27 EU-Staaten geliefert. Nun liegt der Fall vor einem Brüsseler Gericht. Bei dem geht es allerdings nicht nur um nicht eingehaltene Liefer-Versprechen – es geht um (mangelndes), Durchsetzungsvermögen, (fehlendes) Stärkezeigen, und (verpasste) Chancen. „Die Kommission hat keine Investitionsentscheidung getroffen“, kritisiert Politologe Maurer. Und hätte die Impfstoffhersteller wie ein anderes Mitgliedsland behandelt, nicht wie privatwirtschaftliche Unternehmen. Mitte März meldete sich dann Kommissions-Vize Frans Timmermans zu Wort – und räumte Versäumnisse bei der Impfstrategie ein. Zu spät, wie viele kritisieren.
Der grüne Pass. Derzeit versucht Brüssel mit dem Corona-Impfpass das angeschlagene Image aufzupolieren. Mit dem „digitalen grünen Nachweis“ soll es für Reisende leichter werden, durch den Schengenraum zu tingeln. Grenzbeamte müssen sich nicht mehr mit unterschiedlichen Zertifikaten herumschlagen, sondern können einen QR-Code scannen, und so den „Corona-Status“ checken. Anfang Juli soll es losgehen, und bereits im Juni wird in Österreich vermutlich der Grüne Pass eingesetzt, der einen QR-Code enthält und als Nachweis gilt, wenn man etwa ins ins Restaurant oder ins Ausland möchte. Es klingt sinnvoll und realistisch: Doch wie so oft haben die Mitgliedsstaaten ihre eigenen Plänen und so sind die Einreisebestimmungen von Land zu Land leicht unterschiedlich geregelt, die Quarantäne-Maßnahmen betreffend oder die Test-Nachweise. Das österreichische Bundesministerium schreibt: „Ausschlaggebend für diese neue Reisefreiheit bleibt jedoch nach wie vor die epidemiologische Lage in den Mitgliedsstaaten der EU.“ Nationale Entscheidungen werden also auch beim Thema Impfpass die europäischen Bestrebungen übertrumpfen.
Die Wirtschaft hatte andere Sorgen. „Die EU hat ihre Rolle nicht wahrgenommen,“ sagt etwa Erich Frommwald. Weder beim Thema Grenzen noch beim Thema Impfstoffbesorgung und -verteilung. „Es wurde viel Zeit und Geld verloren in Europa. Wir sehen, wie schnell China rausgekommen ist aus dem Ganzen.“ Frommwald ist Geschäftsführer der Kirchdorfer Unternehmensgruppe in Linz, die Firma stellt Zement her. Im vergangenen Frühjahr wollten wir über den „Green Deal“ der EU sprechen. Also den ambitionierten Plan der EU-Kommission, der vorsieht, die Netto-Treibhausgase bis 2050 auf Null runterzufahren und Europa damit zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. Erst kurz zuvor war der Welt klar geworden, dass Corona Auswirkungen auf so ziemlich jeden Lebensbereich haben wird. Damals schrieb Frommwald sofort und kurz und bündig zurück. Der Green Deal sei zu dem Zeitpunkt seine kleinste Sorge, wir sollten doch sprechen, wenn die Pandemie vorbei sei. „Hoffentlich bald“, schrieb er.
Während Unternehmen weltweit also Schadensbegrenzung betrieben, wurde hinter den Kulissen am Green Deal weitergearbeitet. Im vergangenen Dezember wurde der Europäische Klimapakt vorgestellt oder auch „Bürgerpower“, wie die EU-Kommission den Pakt selbst nennt – eine Initiative, bei der sich Menschen, Gemeinschaften und Organisationen an Klimaschutzaktivitäten und am Aufbau eines grüneren Europas beteiligen können. Erst Ende Mai hat sich der EU-Ausschuss des Bundesrats dazu geäußert und vor allem die Einbindung von jungen Menschen als Klimabotschafter als sinnvoll und innovativ bezeichnet.
Wer wird das bezahlen. Doch Klimaschutz kostet. Und Corona hat ein tiefes Loch in die Haushaltskassen der Staaten gerissen. Schätzungen zufolge geht das Bruttoinlandsprodukt der Mitgliedsstaaten um 8,7 Prozent zurück. 750 Milliarden Euro hat die EU lockergemacht, um ihre Mitglieder wieder „aufzupeppeln.“ „Next Generation EU“ heißt das temporäre Aufbauinstrument. Dafür müssen die Regierungen in nationalen Aufbauplänen darlegen, wie die Investitionen zu Digitalisierung und Wachstum beitragen – und zum Umweltschutz. Immerhin rund ein Drittel der Finanzspritze soll für grüne Ausgaben eingesetzt werden. Das klingt gut, allerdings fehlt es hier an konkreten Vorgaben für die Mittelvergabe. Die Wirtschaftskammer Österreich fordert die EU-Kommission außerdem auf, aktiver zu sein, und etwa dafür zu sorgen, dass ausreichend erneuerbare Energie sowie entsprechende Roh- und Einsatzstoffe zu wettbewerbsfähigen Preisen zur Verfügung stünden. Nur so könne die Dekarbonisierung funktionieren. „Neben der Begeisterung für die Idee braucht es auch Realismus“, heißt es in dem WKO-Papier.
Die Pandemie hat unsere Verletzlichkeit gezeigt. Mehr als ein Jahr nach unserer ersten Kontaktaufnahme klingt Geschäftsführer Erich Frommwald am Telefon gut gelaunt und entspannt. Innerhalb von zwei Monaten habe das Unternehmen Covid-19 in den Griff bekommen. Ein Krisenstab wurde aufgestellt, Schichtpläne überarbeitet, Schutzzonen errichtet, Homeoffice wurde zum neuen Alltag. „Unsere technischen Zeichner waren skeptisch anfangs. Zuhause arbeiten – unmöglich!“ Aber es ging dann doch. Jetzt wollten viele gar nicht mehr zurück ins Büro, für die Digitalisierung ist die Pandemie ein Boost. Die Baubranche hat sich nach wenigen Wochen aus der Schockstarre gelöst, boomt derzeit, die Situation, so Frommwald, sei sogar überhitzt. Entlassen musste Frommwald niemanden. Die Kurzarbeiterregelung in Österreich sei „sensationell“, habe den Druck rausgenommen, vermittelt „Bitte, behaltet's die Leut!“. Auch die Prozesse rund um den „Green Deal“ der EU seien im Unternehmen weitergelaufen, wenn sie auch pandemiebedingt medial in den Hintergrund gerückt sind. Derzeit werde eine neue, umweltfreundlichere Zementsorte weiterentwickelt, die im nächsten Jahr auf den Markt kommt. Dazu kommen die explodierenden CO2-Preise, die ökologische Steuerreform. – „Es gibt keinen Bereich, der nicht betroffen ist“, erklärt Frommwald. Die Bestrebungen seines Unternehmens, sich in puncto Umweltschutz weiterzuentwickeln sind nicht ganz uneigennützig. Gerade die Zementbranche sei eine sehr exponierte Branche – das Image hätte in den vergangenen Jahren gelitten. Und deshalb sei es schwieriger geworden, gute junge Leute für den Job zu gewinnen. Wenn Frommwald jetzt auf die Pandemie zurückblickt, wird er nachdenklich. Der Unternehmenskultur habe die Krise gut getan, habe Prozesse beschleunigt. „Wir haben aber auch gemerkt, wie verletzlich wir sind.“
Als verletzlich hat sich auch die Europäische Union gezeigt. „Ich bin bereit, am Ende der Pandemie eine Bilanz zu ziehen“, erklärte EU-Kommissions-Vize Frans Timmermans im März. „Dann können wir ja sehen, was wir falsch und was wir richtig gemacht haben.“ Die Liste der Versäumnisse wird vermutlich länger ausfallen als die Liste der Errungenschaften.