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Globalisierungsphilosoph sieht Zukunft im globalen Dorf und Chance für den ländlichen Raum.
Von Paul Christian Jezek
Der österreichische Globalisierungsphilosoph und Digitalaktivist Franz Nahrada prophezeit eine Renaissance für den ländlichen Raum. „Wenn selbst große Prediger des Urbanen wie der niederländische Architekt Rem Koolhaas davon sprechen, dass sich die interessanten Dinge jenseits der Grenzen von Metropolen abspielen, dann sollte die UNO-Prognose über die weitere Verstädterung revidiert werden.“
Die Corona-Pandemie habe der Menschheit einen ziemlichen „Tritt in den Hintern“ versetzt und gezeigt, dass wir die digitalen Technologien dazu einsetzen können, die Wirtschafts- und Stoffkreisläufe neu zu ordnen und dabei auch unseren Lebensort frei auszusuchen, sagt Nahrada. Der ländliche Raum wird dadurch wieder breite Aufmerksamkeit erfahren, ist der Philosoph sicher: „Wir sind plötzlich wieder in der Situation, dass wir uns vorstellen können, am Land zu wohnen. Und auch, dass die offizielle UNO-Prognose – im Jahr 2050 würden 80 Prozent aller Menschen in den Städten und großen Metropolen wohnen – doch nicht eintreten muss.“
„Wenn die Zukunft der Menschheit wirklich im ländlichen Raum liegt, dann müssen wir endlich anfangen, uns ernsthaft Gedanken machen, wie dieses Leben ausschauen könnte. Ganz sicher heißt das nicht, dass wir alle Bauern werden, obwohl wir mehr mit Landwirten zu tun haben werden. Sondern das heißt, dass wir auf Grundlage der lokalen Kreisläufe eine Fülle von neuen Berufen bekommen werden, die auch mit der Landwirtschaft zu tun haben, und quasi in Netzwerken Wissen sammeln und am jeweiligen Ort verfügbar machen und weiterentwickeln.“
„Piazza telematica“ als neues Dorfzentrum. Nahrada schwebt dabei eine Wiederbelebung der entvölkerten Dorf- und Stadtzentren vor. Indem man die vielerorts leeren Hauptplätze als „Piazza telematica“ reaktiviert, bekommt die Mitte der Gemeinde, die Mitte auch und vor allem unserer Kleinstädte plötzlich eine neue Bedeutung. „Wenn wir sagen, es geht jetzt nicht mehr primär um die Expansion nach außen, sondern um das Hereinholen externer Netzwerke auf Interfaces, Bildschirme und Digitallabors in der Gemeinschaft, dann ist die räumliche Struktur plötzlich nach innen ausgerichtet. Dann ist die Mitte des Dorfs ein Abbild der ganzen Welt.“
Nahrada definiert die „Zukunft im digitalen Dorf“ durchaus anschaulich. „Wenn mich jemand fragt: Was ist der Unterschied zwischen einem globalen Dorf und zum Beispiel einem Ökodorf – vielleicht in einem Satz, dann ist es ein Ökodorf, in dem die Metropolitan Opera aufgeführt wird. Denn wir haben den ganzen Reichtum der menschlichen Kultur und des Wissens im Dorf digital verfügbar und stehen in ständigem Austausch. Das betrifft alle Lebensbereiche, von der Gesundheit (der Diagnose und Betreuung übers Netz) bis zum Maßschuherzeuger, der online verkauft. Die Zukunft bedeutet, dass wir mit den unmittelbaren Menschen und ihren Bedürfnissen wieder mehr zu tun haben, aber gleichzeitig entsteht über die globale Vernetzung ein großes verteiltes Produktionsnetzwerk dahinter.“
Politische Aufgabenstellung. Franz Nahrada diskutierte bereits in den 1980er- und 1990er-Jahren in Kalifornien über die Notwendigkeit, dass mit der digitalen Innovation auch eine soziale Transformation der Gesellschaft einhergehen muss, da bestehende Machtverhältnisse ansonsten weiter zementiert werden und sich sogar grotesk ausdehnen. Ausgehend von der schon damals einsetzenden Landflucht in Griechenland und anderen Regionen stellte sich der Digitalaktivist die Frage, wie man die Dörfer wieder zu vollwertigen Lebensumgebungen machen könnte, „damit die jungen Leute nicht abhauen müssen“.
Und das ist neu, meint Nahrada: „Digitale Technolgien haben das Potenzial menschliche Lebensräume zu verändern, weil sie uns mit der Welt verbinden.“ Und nicht nur das. „Sie können uns in einer Spiralbewegung wieder in die Umgebung zurückbringen, aus der wir kommen, aus der Natur, aus kleinen Gemeinschaften – aber weiterhin wie die Städte verbunden mit der ganzen Welt.“ Die übergreifende Vision sei, lokale Gemeinschaften mit den neuen Technologien in einen völlig anderen Zusammenhang mit der Welt zu bringen – das sei für ihn, Nahrada, auch eine politische Aufgabenstellung geworden. Das Dorf soll wieder Mittelpunkt der Welt werden und nicht nur Anhängsel der Stadt.
Globalisierung richtig machen. 1995 kreierte Nahrada mit der Ausstellung „Global Village“ in Wien ein solches politisches Statement, eine visionäre Zukunftsschau, die mehr als 50.000 Besucher ins Rathaus gelockt hat. Er würde eine solche Schau wieder organisieren – aber nun mit den Erfahrungen der vergangenen 25 Jahre. Ihm ginge es um den Kern der neuen Logik: um eine „positive Globalisierung“. Ihm selbst gehe es eigentlich immer ums Lokale. „Jeder Ort, der von der Globalisierung berührt wird und betroffen ist, kommt auch mit unglaublich vielen Ideen, mit Wissen in Kontakt, das es erlaubt viel mehr zu tun als bisher. Das heißt, Globalisierung kann auch eine Chance sein, sich selbst neu zu erfinden.“
Wenn etwa im Senegal Frauen, die 40 Kilometer am Tag laufen, um Brennholz einzusammeln, in Kontakt mit einem Solarkocher kämen, könnten sie sich die ganze Mühe sparen und merken plötzlich, dass sie nicht in einer armen, elendiglichen Umgebung sind, sondern dass um sie herum jede Menge Energie ist, die – mit der richtigen Technik – auch zum Kochen dienen kann. „Meine Hypothese: Je mehr die Welt zu einem Gesamtsystem zusammen verwächst, je mehr wir technologische Erfindungen machen und uns vorwärts bewegen, desto einfacher könnte das Leben überall werden.“ Und gerade die Städte könnten davon auch profitieren, indem sie Netzwerkknoten, Wissensbasis und „Mutterstädte“ werden.
Fraktale Welt ist positiv. Alle reden vom Ende der industriellen Gesellschaft. Tatsächlich glaubt auch Nahrada, dass die Menschheit an einem Epochenbruch steht. Das hat damit zu tun, dass die alten Spielregeln mit den neuen Technologien nicht mehr funktionieren. Es sei daher ganz wichtig, darauf hinzuweisen, dass der alte Mechanismus mehr kostet, als er uns bringt. Globaler Wettbewerb und Konkurrenzdenken führen lediglich dazu, dass wir am Ende alles zerstören und verbrennen. Jeder spürt, dass es so nicht weitergehen kann.
Die Möglichkeit, auf lokaler Ebene etwas zu tun, habe hingegen viele Aspekte, nicht nur den Wissensaustausch und die dezentrale Produktion, sondern auch den Aspekt des Zugangs zu Wind- und Solarenergie, weil auch diese dezentralisiert wurden. Junge Leute entdecken heute, dass sie in der Natur viele Vorbilder für die Materialwirtschaft, Kreisläufe und Produktion finden.
Je mehr die Welt also zu einem Gesamtsystem zusammenwächst, je weiter die technologische Innovation und die globale Informationsvernetzung voranschreitet, umso eigenständiger könnten die Regionen, Städte und Dörfer werden – und an ihren Kulturen arbeiten, ohne andere missionieren oder kolonisieren zu müssen. Die Vielfalt an Glaubens- und Wertsystemen habe in so einer fraktalen Welt einen ganz anderen Stellenwert als heute, wo sie als Bedrohung und Aufruf zum Kampf gesehen wird. Deshalb könne man sein, Nahradas Projekt der globalen Dörfer, auch ein „Friedens- und Toleranzprojekt“ nennen.
Zur Person
Franz Nahrada (*1954) ist Zukunftsforscher, Netzwerker, Aktivist und Autor.
Der studierte Soziologe, ehemalige Hypermedia-Consultant und Hotelmanager konzipierte in der 1990er-Jahren die viel beachtete Großveranstaltung „Global Village“ in Wien.
Als wissenschaftlicher Leiter der Vereins „GIVE Forschungsgesellschaft – Labor für Globale Dörfer“ befasst er sich mit der Digitalisierung und wie sich diese am besten für einen lebenswerten ländlichen Raum und die Erfüllung der Nachhaltigkeitsziele nutzen lässt.