Parlamentsdirektion Topf
Ohnmacht, Stille und Distanzgebot der Pandemie trafen die zahlreichen Vereine und Freiwilligenorganisationen
Österreichs mitten ins Herz. Den Verantwortlichen scheint klar, dass dieser Kern der Zivilgesellschaft nicht schmelzen darf. Um ihn wieder strahlen zu lassen, sind multiple Kraftakte erforderlich – finanziell, ideell, schnell.
Von Alexandra Keller
Fast hätten sie auch nach dem 19. Mai 2021 zu Hause bleiben müssen. Um bis zum nächsten Schritt weiterhin alleine zu musizieren oder zu singen. Fast. „Dem Österreichischen Blasmusikverband und dem Chorverband Österreich ist es gelungen, dass ab 19. Mai musikalische Vereinstätigkeiten, zumindest eingeschränkt, wieder möglich sind“, verkündeten die Präsidenten der beiden Verbände – Erich Rieger und Karl-Gerhard Straßl – ein paar Tage zuvor. Die Gefahr war groß gewesen, dass der Bereich der ehrenamtlichen Kultur bei den ersten Öffnungsschritten nach dem Corona-Stillstand nicht berücksichtigt wird. Der Druck, der daraufhin auf die Bundesregierung ausgeübt wurde, war jedoch größer. „Chöre und Musikkapellen sind gut organisierte Zusammenkünfte von Menschen, die vergleichbar mit anderen gemeinschaftlichen Tätigkeiten sind. Daher war es notwendig, die von der Bundespolitik geplante Ungleichbehandlung weitgehend weg zu verhandeln“, stellte Karl-Gerhard Straßl (Chorverband Österreich) erleichtert fest. Und erntete für diese frohe Botschaft zwischen Vorarlberg und dem Burgenland wohl tausend herzhaft-erleichterte Blasmusik-Tuschs und nicht minder viele erfreut geschmetterte Hallelujas von den über 250.000 ehrenamtlich tätigen Musikern und Sängern Österreichs.
Sie zählen zum feinsten Netzwerk, das sich um das Land spinnt und möglicherweise mehr zum positiv florierenden Zusammenleben in Österreich beiträgt als irgendetwas anderes. In rund 125.000 Vereinen sind über 3,5 Millionen Einwohner Österreichs ehrenamtlich tätig. Zwischen kreativ und karitativ engagieren sie sich dabei so regelmäßig wie unentgeltlich und halten die Zivilgesellschaft in ihrem Kern zusammen – und am Leben. Ein Leben, das seit Beginn der Corona-Pandemie in weiten Teilen nicht stattfinden durfte.
Die Armut einer Gesellschaft ohne Ehrenamt wurde dabei in aller Dramatik aufgezeigt. Ohne Fußballspiel, Schwimmtraining, Erste-Hilfe-Kurs, Platzkonzert, Ausstellungseröffnung, Tanzbeinschwung, Feuerwehrwettkampf, Chorkonzert, Yoga- oder Seniorentreff, Schach- oder Pferdespringturnier, Hundeshow oder Kletterspaß usw. wirkte das Land traurig und wie tot. Ohnmacht, Stille und Distanzgebot der Pandemie trafen auch die Vereine und Freiwilligenorganisationen selbst mitten ins Herz. Weil es nicht im gewohnten Takt schlagen durfte.
Notwendige Reaktivierung. „Der Wegfall des öffentlichen Gemeinschaftslebens in der Gemeinde hat gezeigt, wie bedeutend das Vereinsleben und das Ehrenamt für unsere Gemeinden sind. Es würde einen enormen Einbruch an Lebensqualität und an Zusammenhalt in der Gemeinde bedeuten, wenn dieses Engagement nicht mehr reaktiviert werden könnte“, sagt Gerhard Huber, Bürgermeister der Siegergemeinde des aktuellen public-Gemeinderankings Sattledt, auf die Frage, welche Lehren er aus den Pandemie-Turbulenzen zieht. Die von ihm skizzierte Langzeitfolge der Pandemie wäre verheerend.
„Was in der Pandemie mit den Vereinen und dem Freiwilligensystem passiert ist, muss sehr ernst genommen werden. In den letzten eineinhalb Jahren sind die Gemeinden diesbezüglich vor großen Herausforderungen gestanden. Nicht nur, weil es schwer bis unmöglich für die Vereine und Organisationen war, ihrem Zweck nachzukommen, sondern auch, weil die Finanzierungsmöglichkeiten über Veranstaltungen und Feste weggefallen sind“, lenkt Peter Biwald, Geschäftsführer des KDZ – Zentrum für Verwaltungsforschung, den Blick auf die leeren Kassen und sagt: „Gemeinden, die konsolidieren, sollten dort nicht sparen. Für die Zuschüsse, die sie da geben, bekommen sie einen sehr hohen Gegenwert – auch für das Zusammenleben vor Ort. Nein, die Gemeinden sollten dort nicht sparen, sondern eher bewusst Akzente setzen, um diese Strukturen zu unterstützen.“
Die Strukturen, von denen der Experte spricht, sind nicht nur essenziell für die mentale Gesundheit und die zivilgesellschaftliche Resilienz der Kommunen, sondern auch für das Bewältigen von Krisen – wie auch jener, die viele Vereine in arge existenzielle Bedrängnis brachte. Es ist eine bizarre Situation. Bizarr und heikel. „Keine Krise kann ohne die Beteiligung der Bevölkerung gemeistert werden, schon gar nicht die Pandemie. Das aktive Rückgrat sind hier nun einmal die hunderttausenden Freiwilligen, die sich in den Dienst der Gesellschaft stellen“, hielt Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka im März 2021 gegenüber der Wiener Zeitung fest, wo er gleich konkreter wurde: „Dabei geht es nicht nur um die geleisteten Einsatzstunden, sondern besonders auch um den mentalen Zugang zur Krise. Allein schon das Helfen sorgt in schweren Zeiten für ein Mindestmaß an Zuversicht und Optimismus.“
Staatstragende Aufgaben. Vor diesem, aber auch jenem Hintergrund, dass Österreichs Ehrenamtliche in „Normalzeiten“ wöchentlich rund 14 Millionen Arbeitsstunden leisten, wird die staatstragende Aufgabe der Vereine und auf Freiwillige aufbauende Organisationen rasch offensichtlich. Und die Theorie wurde in der Praxis der Pandemiebekämpfung nicht minder rasch ersichtlich. Innerhalb kürzester Zeit war es beispielsweise dem Roten Kreuz gelungen, seine aus rund 8.500 regulär beschäftigten und 73.000 freiwilligen Mitarbeitern bestehende Kraft auch in die Abwicklung der zum Pandemiealltag gewordenen Notwendigkeiten umzulenken. Und unter wahrlich herausfordernden Bedingungen die Uraufgaben weiter zu erfüllen.
Auch die Mitglieder der Feuerwehren konnten in Windeseile etwa rund um Covid-Teststationen und bei sonstigen pandemiebedingten Maßnahmen eingesetzt werden. Eine Pandemie zu bekämpfen, zählt nicht zu den Kernaufgaben der Feuerwehren und doch waren die uniformierten Helfer bei der Betreuung und Personenführung bei Teststraßen, in allerlei logistische Fragen beziehungsweise Antworten und sogar bei Grenzkontrollen zu sehen.
Die Feuerwehren sind ein spezieller Sonderfall, wenn es brenzlig wird in Österreich. 4.973 Feuerwehren zählt das Land, 306 davon sind Betriebsfeuerwehren, sechs sind Berufsfeuerwehren und 4.481 sind Freiwillige Feuerwehren. Das ist nicht nur erstaunlich, sondern im Vergleich mit anderen Ländern auch ungewöhnlich. Rund 340.000 Einwohner Österreichs schenken ihren Mitmenschen Arbeitszeit, Bereitschaft und Engagement, um sie vor Feuer und allem, was die Flammen anrichten können, zu retten.
Das muss geübt werden und gelehrt, doch beides – Lehrgänge in Feuerwehrschulen und Übungen – wurde, um das Infektionsrisiko zu reduzieren, ist in den letzten eineinhalb Jahren fast auf null zurückgefahren worden. Nicht nur das hat seine Wirkung auf das Freiwilligen-Löschnetz des Landes. Weil zur Finanzierung der Feuerwehren auch die Feuerwehren selbst beitragen müssen, wirkt sich die Unmöglichkeit, Geld über Veranstaltungen und Feste einnehmen zu können, dramatisch auf die Budgets der Wehrhaften aus.
Gegenüber dem ORF hat der Österreichische Bundesfeuerwehrverband, der Dachverband über allen lokalen Feuerwehren (ÖBFV), Anfang Juni 2021 erst festgehalten, dass den Freiwilligen Feuerwehren jährlich mehr als 100 Millionen Euro fehlen, wenn keine Veranstaltungen stattfinden können. Weil diese Einnahmequelle auch heuer auf wackeligen Beinen steht, darf vorsichtigerweise mit einem Minus von 200 Millionen Euro gerechnet werden. Und weil die Feuerwehren diese Gelder dringend benötigen, um ihre Ausrüstung mitzufinanzieren, wird es eng. Die Freiwilligen Feuerwehren sind als einzige Einsatzorganisation zur Mitfinanzierung etwa der Fahrzeuge verpflichtet.
Mit dem Unterstützungsfonds für Non-Profit-Organisationen (NPO) wurde ein Instrument geschaffen, um die pandemiebedingten Verluste der gemeinnützigen Organisationen und Feuerwehren abzufedern, doch mutet diese allgemeine Mitfinanzierungspflicht für Freiwillige Feuerwehren dreist an. Und als dreist musste zwingend auch der Umstand bewertet werden, dass die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehren vom nationalen Impfgremium im Zusammenhang mit der Covid-Schutzimpfung ignoriert und trotz ihres Einsatzes nicht mit anderen Einsatzorganisationen gleichgestellt wurden. Zu viele Mitglieder – lautete das Argument.
Wertschätzung und mehr. Zu viele Mitglieder? Kann eine Freiwilligenorganisation, die dem Staat eine enorme Verantwortungs- und Finanzierungslast abnimmt, je zu viele Mitglieder haben? Alltagsfakten wie diese könnten durchaus abschreckend auf potenzielle Neumitglieder wirken. Und die Impfignoranz scheint jedenfalls ein perfektes Beispiel dafür zu sein, dass an der Wertschätzung des freiwilligen Engagements gearbeitet werden sollte. Dringend.
Um ebendiese Wertschätzung zu steigern, freiwilliges Ehrenamt zu erleichtern und die Rahmenbedingungen zu verbessern, wurde im Frühjahr 2019 die „Zivilschutzagenda Österreich“ ins Leben gerufen. Das Österreichische Rote Kreuz, der österreichische Bundesfeuerwehrverband und das Kuratorium Sicheres Österreich gehören dieser Agenda der Blaulichtorganisationen an. Initiator war Dieter Siegel, der Vorstandsvorsitzende des Weltmarktführers bei Löschfahrzeugen – der Rosenbauer International AG mit Hauptsitz in Leonding. Ende Mai 2021 hielt Siegel gegenüber dem Standard fest: „Es fehlt in Österreich oft die Wahrnehmung für diese Freiwilligenarbeit. Erst mit meiner Tätigkeit an der Spitze von Rosenbauer habe ich verstanden, welch dichtes Netz an Feuerwehren Österreich hat. Große Teile der Bevölkerung nehmen das aber als gegeben hin. Aber dass wir hier ein weltweit einzigartiges System ohne Entgelt haben, das eine 24-Stunden-Bereitschaft sicherstellt, ist ein soziales Phänomen, welches sehr beeindruckend ist. 98 Prozent der Fläche in Österreich werden durch Freiwillige gesichert.“
Dass es schwieriger geworden ist, ehrenamtlichen Nachwuchs zu finden, ist nicht neu. Die Pandemie hat es logischerweise noch schwerer gemacht, junge Menschen dazu zu animieren. Um diesen Kern der Zivilgesellschaft nicht schmelzen, sondern strahlen zu lassen, sind multiple Kraftakte notwendig. Dass das österreichische Parlament für 2021 den Jahresschwerpunkt Ehrenamt gewählt hat, ist zumindest ein Zeichen dafür, dass die Notwenigkeit zur Impulsgebung in diese Richtung erkannt wurde.
Am 11. Mai 2021 wurde am Wiener Heldenplatz die Ausstellung eröffnet, die das Jahr begleiten soll. „Nach der COVID-19-Pandemie ist es Aufgabe und Herausforderung der Politik, die Menschen zu motivieren, ihr ehrenamtliches Engagement wieder aufzunehmen“, sagte dabei Nationalratspräsident Sobotka. „Ohne das ehrenamtliche Engagement wären die Aufgaben während der Pandemie kaum zu bewältigen gewesen“, sagte die Zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures. „Ohne ehrenamtlich tätige Menschen wäre die Gesellschaft wesentlich ärmer“, sagte Bundesratspräsident Christian Buchmann. Für schöne Worte eignen sich die Leistungen der Ehrenamtlichen immer. Im Oktober 2021 ist ein Symposium geplant, in dessen Rahmen der Status quo und mögliche Perspektiven thematisiert werden sollen. Spätestens dann dürfen Taten folgen.