wirtschaft politik service

matrosovv - stock.adobe.com

Eine Frage der Lage

Die Covid-19-Wellen haben die unterschiedlichen Länder mit unterschiedlicher Wucht getroffen. Eine diffizile Mischung aus Spitals-Kapazitäten und ambulanter Struktur, personellen Ressourcen, Demografie und politischer Reaktionsgeschwindigkeit bestimmt die Schlagkraft des Pandemie-Managements. Und damit die Dynamik der Dramatik.
Von Alexandra Keller

Staatsangehörigkeiten können Segen sein und Fluch. Das war immer schon so und das wird angesichts der globalen Ungleichgewichte und sonstiger Irrsinnigkeiten wohl auch immer so bleiben. Selten aber wurde die geografische Lage des Heimatortes derart entscheidend für das unmittelbare Leben und Überleben wie in der Pandemie.

Hart, knallhart müssen die Einwohner Perus diese Dramatik erleben. Das hoch gelegene südamerikanische Land verzeichnet die höchste Sterblichkeit durch die Corona-Pandemie. Ende Juli 2021 wurde eine auf Daten der WHO (Weltgesundheitsorganisation) und der ECDC (Europäisches Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten) basierende Statistik zu den Todesfällen in Zusammenhang mit dem Coronavirus (COVID-19) veröffentlicht.
Peru führt diese Zahlenreihe mit 5.857 Todesfällen je Million Einwohner an. Rund 32 Millionen Einwohner zählt das Land und die traurige Multiplikation ergibt, dass 187.424 Peruanerinnen und Peruaner dem Virus direkt oder indirekt zum Opfer gefallen sind. Das Gesundheitssystem ist komplett kollabiert. Selbst in den Krankenhäusern der Hauptstadt Lima war der Sauerstoff rasch knapp geworden, Menschen mussten sich verschulden, um Behandlungen zu bezahlen und das tödliche Konzert wurde von Korruptions- und Betrugsskandalen begleitet.

In Peru trifft das zu, mit dem der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz zu Beginn der Pandemie die Angst in den Lockdown-Wohnzimmern schürte. Jede Peruanerin und jeder Peruaner kennt jemanden, der an den Folgen der Infektion gestorben ist.

In diesem traumatischen Zustand grassiert nun die Angst vor der nächsten Welle, der nächsten Virus-Variante. „Lambda“ heißt sie. Laut ARD ist sie in Peru für 80 Prozent der Neuinfektionen verantwortlich und der Grund, warum noch nicht eingeschätzt werden kann, wie gefährlich die Lambda-Variante ist, liegt an der dürftigen Datenlage.

„Von rund zwei Millionen Daten über Genomsequenzen des Coronavirus stammten heute nur 30.000 aus Südamerika“, hielt das ARD-Studio Südamerika am 25. Juli 2021 fest. Auch bei der Überwachung der Virusvarianten zeigen die reichen Länder der Erde offenkundig die gleiche fatale Ignoranz, wie bei der Verteilung der Corona-Impfstoffe.

Verteilung der Impfstoffe. Anfang Februar 2021 zitierte das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ die Berechnungen von Ökonomen, laut denen eine ungerechte Verteilung von Impfstoffen der Weltwirtschaft einen Schaden zwischen 1,8 Billionen und 3,8 Billionen Dollar zufügen könnte. Eine Billion entspricht 1000 Milliarden und diese Berechnung fußt auf der Annahme, dass Entwicklungsländer Ende 2021 die Hälfte ihrer Bevölkerung geimpft haben. Dieses Best-Case-Szenario mutet utopisch an. Das Worst-Case-Szenario liegt ein wenig näher. In dem Fall gingen die Forscher davon aus, dass die Bevölkerung der wohlhabenden Länder bis Mitte 2021 vollständig geimpft, die ärmeren Länder aber weitgehend ausgeschlossen werden. Dann musste mit einem Schaden von neun Billionen Dollar – in Ziffern 9.000.000.000.000 – gerechnet werden und auch dieser Schluss muss wohl angesichts der immer noch dürftigen Durchimpfungsrate selbst in den reichen Ländern korrigiert werden.

Der Zahlenspiele rund um die ungerechte globale Verteilung der Corona-Impfstoffe gibt es viele. So hat der ehemalige deutsche Vizekanzler und SPD-Politiker Sigmar Gabriel, der für das Beratungsunternehmen „Eurasia“ tätig ist, berechnet, dass eine ausbleibende Unterstützung für Schwellen- und Entwicklungsländer während der Corona-Pandemie bis 2025 etwa durch fehlende Exporte, Touristen oder Gaststudenten allein in Deutschland einen Schaden von 8,1 Milliarden Euro verursachen könnte.

Laut Gabriel sei es im eigenen Interesse Deutschlands, sich um eine gerechte Verteilung der Corona-Impfstoffe zu bemühen. „Herdenimmunität geht nur, wenn die ganze Welt immun ist. Abschottung geht in Deutschland nicht“, stellte Gabriel fest, wobei Deutschland mit dem Namen jedes wohlhabenden Landes ersetzt werden könnte, das im Zusammenhang mit der Impfstoff-Gier jede Virus-Logik negiert.

Große Unterschiede auch in Europa. In der Arena der Reichen stechen – global betrachtet - die europäischen Staaten hervor, doch auch bei ihnen gibt es teils gravierende Unterschiede in den Gesundheitssystemen. „Grundsätzlich sind bei exponentiellen Verläufen von Infektionen ohne entsprechende Gegenmaßnahmen auch die größten Kapazitäten im Gesundheitswesen irgendwann erschöpft.

Trotzdem machen die Anfangsausstattung und die Reaktionsgeschwindigkeit der Gesundheitssysteme einen großen Unterschied bei der Bewältigung von Krisensituationen aus. In Systemen, in denen schon vor der Pandemie pro Kopf weniger Ressourcen vorgehalten wurden und sich das Virus zunächst unbemerkt verbreiten konnte, was die Kapazitätsgrenze deutlich schneller erreicht“, analysierten die Mitarbeiter des deutschen WIP (Wissenschaftliches Institut des Verbandes der Privaten Krankenversicherung PKV) im Juli 2020 und hielten bezüglich der entscheidenden Kapazitäten fest: „Für die Bewältigung einer Pandemie ist insbesondere die Anzahl der Krankenhaus- und Intensivbetten (mit Beatmungsmöglichkeit) entscheidend, um die Sterblichkeitsraten niedrig zu halten. Die betrachteten Länder weisen sehr unterschiedliche Bettenkapazitäten in der stationären Akutversorgung auf. Deutschland hat auf 100.000 Einwohner gesehen mit 602 die meisten Betten, gefolgt von Österreich, Belgien und Luxemburg. Schweden, UK, Dänemark, Italien, Niederlande, Finnland und Irland haben mit unter 300 Betten die Hälfte der deutschen Bettenkapazitäten. Diese Zahlen allein sind kein Indikator für eine adäquate Krankenhausversorgung. Mehr Bettenkapazitäten bieten im Pandemiefall jedoch einen zeitlichen Vorteil, weil Zusatzkapazitäten nicht erst aufgebaut werden müssen, wenn sie benötigt werden.“

Neben den Akutbetten standen und stehen die Intensivbetten im Fokus des Infektionsgeschehens, müssen COVID-19-Patienten bei schweren Verläufen doch intensivmedizinisch behandelt werden. Die Ausstattung mit diesen rettenden Hightech-Betten ist bei den EU-15-Staaten extrem unterschiedlich. Portugal etwa, das spätestens Anfang 2021 an seine Grenzen stieß und kurz vor dem Kollaps stand, bildet intensivmedizinisch das Schlusslicht der EU-15. Laut OECD-Statistik stehen im knapp 10,3 Millionen Einwohner zählenden Land pro 100.000 Einwohner nur 4,2 Intensivbetten zur Verfügung.

Fünf Intensivbetten sind es beispielsweise in Irland, 5,8 in Schweden, sechs in Griechenland, 6,7 in den Niederlanden, 8,6 in Italien, 9,7 in Spanien, 10,5 in England, 16,3 in Frankreich und 24,8 in Luxemburg. Österreich belegt mit 28,9 Intensivbetten den „zweiten“, Deutschland mit 38,2 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner den „ersten“ Rang.


Auslastungen der Intensivkapazitäten. Forscher der Universität Washington hatten vergangenes Jahr eine Modellrechnung für eine Vielzahl von Ländern erstellt, um abschätzen zu können, wie stark die Intensivkapazitäten durch die COVID-19-Pandemie ausgelastet werden würden.

Nach diesen Modellberechnungen blieb der Bedarf an Intensivbetten während der Pandemie in Deutschland, Österreich und Griechenland deutlich unterhalb der jeweiligen Kapazitätsgrenzen, auch Luxemburg hatte trotz hoher Infiziertenzahlen ausreichend Kapazitäten. Belgien, Frankreich, Irland, Italien, die Niederlande, Portugal, Spanien, Schweden und Großbritannien hatten dagegen laut dieser Schätzungen teilweise deutlich mehr Bedarf an Intensivbetten, als in diesen Ländern zur Verfügung standen. Die Modellrechnung sollte sich in vielen Ländern bewahrheiten, selbst wenn die Bewältigungsstrategien von einer Melange aus zahlreichen Faktoren bestimmt wurden.

Die erste Welle vom Frühjahr 2020 traf bekanntermaßen vor allem die westeuropäischen Länder, mit der zweiten Welle wurde im Herbst 2020 ganz Europa erfasst, und spätestens im Verlauf der dritten Welle war bekannt, welchen Einfluss rasches Handeln auf den Verlauf eines Infektionsgeschehens hat.
„Essenziell ist die frühzeitige Einleitung von Maßnahmen bei dynamischem Infektionsgeschehen. Großbritannien und Italien sind hier zwei Negativbeispiele, wie durch verspätetes Handeln in der ersten Welle großer Schaden (hohe Infektionszahlen, viele Todesfälle) entstehen konnte. Rechtzeitiges Handeln benötigt neben politischer Willenskraft allerdings auch eine entsprechend valide Datengrundlage, auf Basis derer fundierte Entscheidungen getroffen werden können. Fehlende Daten oder systematische Fehler in den Daten bzw. der Datenauswertung erschweren die Etablierung einer Entscheidungsgrundlage“, stellen die WIP-Experten in der aktuellen, im Juli 2021 veröffentlichten Studie fest, mit der sie einen vergleichenden Überblick über die „Europäische Gesundheitssysteme in der COVID-19-Pandemie“ liefern. Das Papier liest sich fast wie eine Handlungsanleitung für die Gesundheitsministerien oder deren Versäumnisliste in der traumatischen Retrospektive.

„Einige Länder waren besser in der Lage, die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus einzudämmen und die gesundheitlichen wie wirtschaftlichen Folgen abzumildern als andere. Für die unterschiedliche Betroffenheit der Länder in der Pandemie gibt es vielfältige Gründe. Zum einen spielen zeitliche Faktoren eine Rolle, also wann Infektionen entdeckt und entsprechend von politischer Ebene reagiert wurde bzw. reagiert werden konnte. Des Weiteren ist relevant, welche Bevölkerungsgruppen besonders stark betroffen sind, wie hoch die Behandlungskapazitäten sind und wie deren Auslastung ist. Zudem spielt der Zugang zur ambulanten Versorgung eine Rolle für die Belastung des stationären Sektors“, halten die Wissenschaftler zusammenfassend fest.

Pandemie kaum beherrschbar. Das Pandemiegeschehen stark beeinflussende Faktoren, wie die Demografie, können beim besten politischen Willen nicht geändert werden, doch es gibt andere Faktoren, die durchaus Orientierungspunkte für gesundheitssystemisches Handeln setzen. So hat sich, wie die WIP-Experten feststellten, die ambulante Gesundheitsversorgung als Gamechanger herauskristallisiert: „Ein leistungsfähiger ambulanter Sektor ist wichtig, um einen Zustrom von (potenziell) Infizierten in die Krankenhäuser zu vermeiden bzw. zu vermindern und zudem eine ambulante Testung in der Fläche gewährleisten zu können. Europäische Gesundheitssysteme, die einen starken ambulanten Sektor haben, sind in der Pandemie bisher gut zurechtgekommen. Es zeigen sich im Vergleich zu anderen Ländern deutlich bessere Ergebnisse hinsichtlich Hospitalisierungen, Intensivauslastung und Todesfällen. Im Zusammenspiel mit dem ambulanten Sektor sollte dennoch auch in der stationären Versorgung ausreichend medizinisch-technische und personelle Kapazitäten vorhanden sein, vor allem in der Intensivmedizin.“

Die Resilienz der verschiedenen Gesundheitssysteme der EU-15-Staaten ist so verschieden wie die Länder selbst. Es klingt anachronistisch, doch die Chancen einer Bevölkerung, die Pandemie im dramatischen Infektionsfall gut zu überstehen, werden mit den nationalen Landesgrenzen hart skizziert. Auch in Europa. Weit weg von Südamerika. Dass aktuelle und künftige Erfolge bei der Pandemiebewältigung eng mit der Durchimpfungsrate zusammenhängen, scheint trotz der im Juli 2021 bekannt gewordenen Immunitätsrückschläge bei Geimpften das Credo über die Grenzen hinweg. Das Virus und all seine Varianten lassen diese Grenzen dann endgültig verschwimmen, wenn klar wird, dass selbst die perfekte Durchimpfung der Bevölkerung in den westlichen Industrieländern die Pandemie nur punktuell beherrschbar macht. Und damit letztlich gar nicht.