C. Redelsteiner, 2019
Sozialarbeiter als integrative Unterstützung im Gemeinwesen
Gemeinden stehen vor vielen Herausforderungen, die auch demografisch bedingt sind. Die steigende Zahl älterer Menschen, verbunden mit einer Reduktion von Allgemeinmedizinern und Mangel an mobilen Pflegefachkräften, führen zu einem Anstieg an nicht indizierten Hospitalisationen. Betreuungshandlungen, die früher vor Ort durchgeführt wurden, lösen nun Rettungseinsätze und Transporte oft über weite Strecken in klinische Einrichtungen aus. Oft, um „nur“ einen Katheter zu wechseln.
Als eine der Gegenmaßnahmen wurden in der Zielsteuerung Gesundheit Primärversorgungseinheiten (PVE) geplant, die regional für die Filterung von Patienten zuständig sind, und ärztliche, pflegerische und sozialarbeiterische Betreuung niedrigschwellig anbieten bzw. koordinieren sollen. Mit Stand Herbst 2021 gibt es 29 dieser PVEs, der strategische Plan von 75 PVEs mit Ende 2022 war unter anderem pandemiebedingt nicht haltbar.
Visionsprojekt Orth. Der Masterstudiengang Sozialarbeit der FH
St. Pölten erweiterte die Idee der medizinischen Individualversorgung, unter anderem zusammen mit Bürgern der Gemeinde Orth an der Donau, in einem Projekt um Aspekte der sozialarbeiterischen Gemeinwesenarbeit. Die Versorgung von Krankheit soll mit der Gestaltung von Gesundheit und gesunden Lebenswelten im Gemeinwesen verknüpft werden. Verwandte Begriffe für diese gemeindenahen Vernetzungs- und Kooperationsformen sind Sozialraumorientierung, Quartiersarbeit oder Grätzlarbeit. Die Konzepte haben ihre theoretischen Wurzeln in der Sozialarbeit; Soziologie und Public Health und sind eng mit Fragen der Gestaltung des ländlichen, suburbanen und städtischen Raums bzw. der Raumplanung, Raumordnung und der Verteilung von sozialen und medizinischen Versorgungsstrukturen verbunden.
Gemeinwesenarbeit betrachtet über den individuellen Einzelfall hinaus auch soziale Räume. Es geht um die Gestaltung lokaler oder regionaler Lebenswelten und darum, gutes und gesundes Leben für möglichst alle zu verwirklichen. Bei dieser Methode der Sozialarbeit geht es darum, gemeinsam mit Bewohnern einer Gemeinde bzw. Region, ausgehend von deren konkreten Lebenswelten, verbesserte Lebensbedingungen zu gestalten. Dabei stehen vorhandene Stärken und Ressourcen sowie die Eigeninitative aller Beteiligten im Vordergrund.
Ansätze für ein
Gemeinwesenzentrum
• Ein Gemeinwesenzentrum fördert durch inhaltliche und bauliche Konzeption eine integrierte Zusammenarbeit von Allgemeinmedizin, Sozialarbeit, Pflege, Fachärzten, Physiotherapeuten und weiteren medizinischen und psychosozialen Fachkräften.
• Es ist vor allem aber auch ein Begegnungszentrum der Kommune oder eines Verbandes kleiner Gemeinden, nicht nur Anlaufstelle für Menschen, die Unterstützung bei Krankheit suchen.
• Ein bedürfnisgerechtes Gemeinwesenzentrum ist zentral gelegen und zielgruppenoffen. Es holt Bürger ab – inhaltlich und bei Bedarf durch lokale Kooperationen auch physisch. Es verfügt also über ein Mobilitätskonzept. Idealerweise wird durch den Aufbau ein Leerstandsobjekt im „Dorfkern“ wiederbelebt. Anstelle eines Zentrums ist auch ein Netzwerk an kleineren Objekten, die verschiedene Funktionen erfüllen, denkbar.
• Es verschreibt sich der Förderung nachbarschaftlicher Netzwerke und einem Miteinander der Bürger. Selbsthilfe und Nachbarschaftshilfe werden durch aufsuchende Sozialarbeit im Gemeinwesen gestärkt.
• Die Sozialarbeiter sind Experten der regionalen Sozial- und Vereinslandschaft. Sie sind eine neutrale Anlaufstelle bei der Suche nach Betreuungseinrichtungen, teilen bei Übernahmeproblemen Patienten ausgewogen zu und entlasten Pflegedienste von organisatorischen Aufgaben. Sie verknüpfen bei Bedarf zu weiteren Sozial- und Pflegeeinrichtungen, Beratungszentren und zu staatlichen bzw. behördlichen Unterstützungssystemen.
• Gemeinwesenarbeit ist ein zentraler Handlungsgrundsatz für das Zentrum. Das bedeutet, das Bürger auch an der inhaltlichen Ausgestaltung beteiligt werden. Sie können je nach Rechtsstruktur Vereinsfunktionen übernehmen oder Miteigentümer werden. Es finden regelmäßige Austauschforen statt, wo sie sich Bürger aktiv an der Weiterentwicklung ihres Zentrums beteiligen.
• Zur Sicherstellung der akuten medizinisch und pflegerischen Hilfe könnte zumindest nachts, an Wochenenden und an Feiertagen eine „Acute Community Nurse“ (Akutpflegerin) vorgehalten werden. Diese ist über die Rufnummern 144, 141 und die Gesundheitsberatung 1450 disponierbar und kooperiert mit Rettungsdienst, Pflegediensten und Allgemeinmedizinern.
• Soziale Ungleichheit, die sich in unterschiedlichen Lebensbedingungen widerspiegelt, macht krank und hilfsbedürftig. Gesundheitsversorgung im engeren, aber interprofessionellem Sinne (Arzt, Pflege, Therapieangebot) wird durch soziale Angebote (Beratung, Begleitung, Betreuung, Information, Kommunikation, Begegnungsräume) und Möglichkeiten der Selbstorganisation und Eigenaktivität der Bürger ergänzt.
• Eine wesentliche Aufgabenstellung ist dabei in Anlehnung an Konzepte des „Social Prescribing“ die konsequente Ausrichtung auf gesundheitsfördernde Aktivitäten und das gemeinsame dialogische Suchen nach den Stärken und Interessen von Menschen – die damit die Gelegenheit haben, aus der Patientenrolle in eine Nutzerrolle auf Augenhöhe zu wechseln. Die Liste der möglichen Aktivitäten in einer Region beinhaltet z.B.: Lokale Vereine, Kultur, Lesekreise, freiwilliges Engagement, Religion, Spirituelles, Singen, Schauspiel, Tanz, Musizieren, Sport, Wandern, Spazierengehen, Kunst, Natur (Green = Wald, Wiese; Blue = Wasser, Social Prescribing), Gärtnern, Tierkontakt, Kochen, Ernährung, Freizeit, Freundschaften knüpfen, Bildung, Computerkurse ...
• Das Gemeinwesenzentrum ist neben der sozialen und persönlichen auch eine mediale Vernetzungszone. Es verknüpft Menschen digital zu spezialisierten Ressourcen, die geografisch weiter entfernt sind. Das reicht vom einfachen leistungsfähigen Internetzugang bis zu Videokonferenzen oder Onlineberatung bzw. Telemedizin.
Sozialarbeiter studieren an FHs in
Bachelor- und Masterstudiengängen.
INFOKASTEN: Community Organizing
Zentrale Aufgaben und Grundsätze von Sozialarbeitern in der Gemeinwesenarbeit:
• Arbeiten koordinierend, vernetzend und zielgruppenübergreifend, d. h., ihre Arbeit richtet sich an die gesamte Bevölkerung.
• Orientieren sich an den Bedürfnissen, Interessen und Themen der Bewohner.
• Fördern Eigenaktivität, Mitgestaltung, Selbstorganision und Selbsthilfekräfte durch Aktivierung der Bürger, beispielsweise durch Unterstützung von Selbsthilfegruppen, Bewegungsinitativen, Kochclubs etc.
• Nutzen die vorhandenen Ressourcen vor Ort, wie etwa den bestehenden Naturraum, und kooperieren dabei mit Vereinen, Unternehmen.
• Engagieren sich für den und unterstützen die Planung des Ausbaus notwendiger guter Infrastruktur: Wohnraum, Aus-/Bildungsangebote, Gestaltung öffentlicher Plätze und Parks, setzen dabei auf Vernetzung und Kooperation mit Gemeindevertretern und Aktionsgemeinschaften.
• Versuchen auch schwer erreichbare Menschen und Gruppen anzusprechen und zu Engagement und Teilhabe anzuregen.
• Leisten Hilfe und Unterstützung zur seelischen Stabilisierung und Förderung der Selbsthilfefähigkeit
• Entwickeln und verwirklichen breite präventive Gemeinwesen- und Gesundheitsförderungsprojekte
• Führen Clearings durch, beraten, verweisen ggf. an geeignete Stellen im Rahmen des Case Managements
• Leisten interprofessionelle Arbeit an einer ganzheitlichen, regional verankerten Gesundheitsversorgung
• Praktizieren ressourcenorientierte Lösungsarbeit im Rahmen des Mandats von Klienten, rechtlicher Vorgaben sowie der Profession Sozialarbeiter.