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Pflege, Kinderbetreuung und Klimaschutzmaßnahmen bilden einen Reformstaudamm, dessen Bersten immer bedrohlicher wird. Die Abwesenheit von ganzheitlichen Strategien und nachhaltigen Finanzierungsmodellen setzt die Gemeinden unter Druck. Jüngste Milliardenspritzen können das Vakuum nicht füllen.
Von Alexandra Keller
Wenn Arnold Schwarzenegger nach Österreich kommt, sind das stets recht bizarre Momente. Mehr als bei anderen Ausgewanderten schüren seine Auftritte eine Art „alles ist möglich – ja, auch für Österreicher“. Bizarr wird es, wenn er mit einer Stimme, die Action-Cineasten unweigerlich an die äußerst spärlich verbal umrahmte Martialität der Terminator-Filme erinnert, über das Klima und die Rettung der Welt spricht.
Mitte Juni 2022 tat er das wieder. In der Wiener Hofburg, in die Schwarzenegger hochrangige Klima-Experten und -Aktivisten zum Klimagipfel „Austrian World Summit“ geladen hatte. Das hochkarätige Klimagipfeltreffen stand unter dem Motto „Creating Hope - In-spiring Action“. Das Datum des Treffens war ebenso wohlgewählt, fand es doch zum 30-jährigen Jubiläum des bis dahin größten Erdgipfels statt, jenem von Rio de Janeiro. Damals, im Juni 1992, waren in Rio die Vertreter von fast allen Staaten der Welt zusammengekommen, um an den Weichenstellungen für eine neue, weltweite Zusammenarbeit in der Umwelt- und Entwicklungspolitik zu arbeiten.
Nach 12 Tagen hatten die 178 Staatsvertreter fünf Dokumente unterzeichnet, die Basis für zahlreiche Pläne und vor allem für die Hoffnung wurden, dass dem maßlosen Ressourcenverbrauch, dem unstillbaren Energiehunger, dem sukzessiven Zerstören der Umwelt und den in Folge enthemmten Wachstumsstrebens wachsenden globalen Ungleichheiten Einhalt geboten werde. Die Tatsache, dass erst 21 UN-Klimakonferenzen später – in Paris 2015 – konkrete CO2-Einsparungsziele fixiert wurden und der Kollaps der Welt 2022 näher scheint als je zuvor, macht es schwer, das Rio-Jubiläum zu feiern. Unter dem hektischen Druck, endlich wirkungsvolle Aktionen zur Rettung des Klimas zu setzen, bleibt dafür auch keine Zeit. Und die Hoffnung muss weiterhin zuletzt sterben.
Klimastrategie Österreichs. Der erhitzte Handlungsdruck zur CO2-Reduktion und zur Umsetzung klima-rettender beziehungsweise -schützender Maßnahmen trifft UNO-abwärts alle Staaten und innerhalb derer alle staatlichen Ebenen. Auch in Österreich selbstverständlich, wo die Klimastrategien des Bundes im Hinblick auf die Schlüsseljahre 2030, 2040 und 2050 taffe Ziele vorgeben. Eine bis zu den Gemeinden hin durchdeklinierte Strategie fehlt jedoch. „Klimaschutz und CO2-Reduktion sind Herausforderungen, die Bund, Länder und Gemeinden nur gemeinsam meistern können. Die Zusammenarbeit der drei ist aber noch ausbaufähig.
Mehr Fokus auf die Rolle der Gemeinden und die Fragen, welche Rolle sie bei der Klimawende spielen und welchen Beitrag sie zur Bewältigung der Klimakrise leisten sollen, wäre notwendig“, ortet Karoline Mitterer, Expertin beim Zentrum für Verwaltungsforschung – KDZ, ein essenzielles Missing Link, das zusätzliche Hürden beim schweißtreibenden Klimawandelmarathon aufbaut.
Dabei sind die bestehenden Hürden schon schwer zu überwinden. Anfang Juni 2022 machten beispielsweise Vertreter von Fridays For Future und Global 2000 auf die Fernwärme in St. Pölten aufmerksam, die den Umwelt- und Klimaaktivisten aufgefallen war, weil null Prozent Erneuerbare in ihr steckt.
„Die Fernwärme in St. Pölten wird zu 41 Prozent aus klimaschädlichem Gas und zu 59 Prozent aus der Müllverbrennungsanlage Dürnrohr versorgt. 40 Prozent der Haushalte sind in St. Pölten an das Fernwärmenetz angeschlossen. Von den restlichen Haushalten heizen 33 Prozent mit einer Gasheizung, 3 Prozent mit Öl, 13 Prozent nutzen Strom und 11 Prozent Biomasse für ihre Wärmeversorgung“, skizzierten die Klimaaktivisten mit ihrem recht ernüchternden Einblick in die energetische Versorgungssituation der niederösterreichischen Landeshauptstadt auch gleich eine To-do-Liste an die Stadtregierung. „Die Bevölkerung von St. Pölten verdient eine verlässliche und saubere Wärmeversorgung, Wir fordern Bürgermeister Matthias Stadler auf, einen klaren Plan für die Energiewende vorzulegen, damit wir schmutziges Gas hinter uns lassen können“, sagte Johanna Frühwald von Fridays for Future. Am Abschied vom jüngst zum preistreibenden „Gottseibeiuns“ für die damit Heizenden und Duschenden aufgestiegenen Erdgas wird gearbeitet. Ein Biomassekraftwerk ist angedacht und erst Ende Mai 2022 war bei der Fernwärme St. Pölten die Modernisierung der Kesseltechnologie gefeiert worden, mit der 13.000 Tonnen CO2 gespart werden können. 8,7 Millionen Euro hatte allein dieses Projekt gekostet.
Investitionen kosten viel Geld. So gut wie alle Klimamaßnahmen sind höchst investitionsintensiv. Jene der Klimaanpassung, die neben den großen Brocken des Hochwasserschutzes und der Lawinenverbauungen alle Maßnahmen zur Abwehr oder zum Schutz vor Klimakatastrophen betreffen, genauso wie Maßnahmen zur Reduktion des CO2-Ausstoßes. „Beim öffentlichen Verkehr sind die Städte mit ihren eigenen Verkehren besonders stark betroffen“, spricht Mitterer einen Bereich an, in dem viel Potenzial steckt. Noch sind rund 60 Prozent der Bürger mit dem Auto unterwegs. Diesen Anteil auf 40 Prozent zu senken ist ein ambitioniertes Ziel, das nur mit einem richtig massiven Öffi-Ausbau erreicht werden kann. „Auch all die Maßnahmen, die mit der Wärmewende zu tun haben, wie alternative Heizsysteme für Gemeindebauten, Wärmedämmungen oder Sanierungen sind sehr investitionsintensiv. Es ist ein breites Feld, das die Kommunen da bearbeiten müssen, doch entsprechende Fördertöpfe fehlen dafür teils noch deutlich“, sagt Mitterer.
Es gibt zwar Förderprogramme – von EU, Bund und Ländern – doch die sind nicht aufeinander abgestimmt und schon gar nicht auf die Gemeinden zugeschnitten. Um deren hohe Investitionen sichern zu können, schlägt Karoline Mitterer etwa die Einrichtung eines Stadtregions- oder Klimaschutzfonds nach dem Vorbild des Siedungswaaserfonds vor – ausgestattet mit konkreten Zielen und mit entsprechend viel Geld, auf dass die Gemeinden Zugriff haben. „Das wäre ein sinnvoller Punkt. Genauso sinnvoll beziehungsweise notwendig wäre ein ganzheitlicher, Bund, Länder und Gemeinden umfassender Blick auf das Thema“, so Mitterer.
Der Pflegenotstand. Der große ganzheitliche Blick, der alle Gebietskörperschaften umfasst und ihre Dynamiken in positiven Einklang bringt, wirkt fast wie die phantastische Wunschvorstellung eines kommunalen Utopisten. Und doch wäre genau dieser Kraftakt nötig, um jene Reformen zu stemmen, die das Grundgerüst des Staates seit Jahren bröckeln lassen. „Die können wirklich nur grad und grad die Basics abdecken, mehr ist nicht drin. Kein Händchenhalten. Einmal roch es auch stark nach Kot, als ich reinkam. Ach, es ist schlimm“, hielt eine Frau die Situation ihrer pflegebedürftigen Mutter in einem Kommentar im Standard fest. Wenn der so viel zitierte Pflegenotstand mit derartigen Worten beschrieben wird, wird er so real, dass es fast nicht auszuhalten ist. „Ich verstehe nicht, dass es erst so weit kommen muss, bevor etwas geschieht“, hielt die Tochter weiters fest und traf auch damit punktgenau ins Schwarze dieser unmenschlich wirkenden Realität. Der Artikel, den sie kommentierte, war am 12. Mai erschienen, am Internationalen Tag der Pflege.
Das Pflegepaket statt einer Reform. Der jährlich im Gedenken an ihre Pionierinnenrolle zelebrierte Geburtstag Florence Nightingales stand heuer unter keinem guten Stern. Wieder nicht. Burn-out, Überlastung und Personalnot sind in den Pflegeberufen derart zur Normalität geworden, dass der an Wut grenzende Unmut von den Betroffenen an ihrem Feiertag auf die Straßen getragen und dabei ins Land geschrien wurde. Die Offensive Gesundheit, ein Pflege-Kampfbündnis bestehend aus Gewerkschaften, Arbeiterkammer, Österreichischem Gewerkschaftsbund und Wiener Ärztekammer hatte zu den Demonstrationen und Protestaktionen aufgerufen. Die Forderungen des Bündnisses sind nicht neu. Für mehr Ressourcen für das Gesundheitswesen, mehr Personal, bessere Arbeitsbedingungen, bessere Bezahlung und eine Aus- und Weiterbildungsoffensive waren am 12. Mai 2022 österreichweit rund 14.500 Menschen auf die Straße gegangen und es ist kein Zufall, dass die Bundesregierung just am Tag zuvor eine Pflegereform angekündigt hat, die Sozialminister Johannes Rauch wie folgt kommentierte: „Klatschen allein ist zu wenig! Die Bundesregierung hat deshalb das größte Reformpaket der letzten Jahrzehnte für die Pflege zusammengestellt. Mit rund 1 Milliarde Euro bis zum Ende der Gesetzgebungsperiode verbessern wir die Rahmenbedingungen für die Menschen, die in der Pflege arbeiten. Wir machen die Ausbildung deutlich attraktiver. Und wir unterstützen Menschen, die Pflege benötigen, und entlasten pflegende Angehörige. Die Menschen, die in der Pflege arbeiten, haben sich diese Verbesserungen längst verdient. Dieses große Pflegepaket ist dazu ein wichtiger Schritt.“
Am Protesttag der Pflege hatten die Beteiligten noch keine Chance gehabt, die Details der rasch zum „Pflegepaket“ herabgestuften Pflegereform zu studieren. Kurze Zeit später wurde es teils recht schonungslos zerpflückt. 2018 hatte Ex-Kanzler Sebastian Kurz eine große Pflegereform angekündigt und 2022, fünf Jahre und fünf Ressortverantwortliche später, ist die oppositionelle Ungeduld riesengroß. „Das ist ein weiterer Eintrag in die Geschichte ihres Versagens bei der Pflegereform“, stellte etwa SPÖ-Sozialsprecher Josef Muchitsch fest und bezeichnete beispielsweise den 1.500 Euro-brutto-Bonus für pflegende Angehörige als Almosen. Sein SPÖ-Kollege und Präsident des Pensionistenverbandes, Peter Kostelka, erklärte, die vorgestellten Maßnahmen beinhalten „wenig Licht, aber viel Schatten, weil wesentliche strukturelle Maßnahmen fehlen“. Kostelka forderte ein eigenes Staatssekretariat für Pflege, „um eine Reform an Haupt und Gliedern zu bewerkstelligen“.
Der Geschäftsführer des Dachverbandes der 560 Mitgliedsorganisationen vertretenden Sozial- und Gesundheitsunternehmen Sozialwirtschaft Österreich (SWÖ), Walter Marschitz, bezeichnete die vorgestellten Maßnahmen zwar als zweifellos geeignet, einen Beitrag zur Entspannung der Situation im Pflegebereich zu leisten, kritisierte aber den Prozess: „Die Vorgangsweise knüpft an die alte josefinische Tradition an. Die gute Absicht ist erkennbar, eine ernsthafte strukturierte Einbindung der Betroffenen und eine gemeinsame Erarbeitung der Maßnahmen hat es nicht gegeben.“
Finanzierbarkeit immer noch offen. Zu einem ähnlichen Schluss kommt KDZ-Expertin Karoline Mitterer. Sie bewertet die das Personal betreffenden Maßnahmen des Pakets als positives Zeichen und bezeichnet das Paket an sich „als einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung – nach dem langen Stillstand“. Die wirklich großen Fragen wurden mit dem Paket jedoch nicht beantwortet und die wirklich großen Baustellen auch nicht abgeschlossen. Vor allem nicht jene, die die Gemeinden betreffen und belasten. „Die langfristige Finanzierbarkeit der Pflege als einer der zentralen Punkte ist nach wie vor nicht gelöst“, so Mitterer. Eine Pflegereform verdient diesen Namen wohl erst, wenn die nachhaltige Finanzierbarkeit geregelt und beispielsweise klar ist, welche Steuern verwendet oder wie die Aufgaben verteilt werden. Eine Pflegereform verdient diesen Namen wohl auch nur, wenn alle Gebietskörperschaften und Stakeholder in die Diskussion wie die Lösungsfindung einbezogen werden. Insofern hat SWÖ-Geschäftsführer Marschitz recht mit dem Hinweis auf die josefinische Tradition, die auch die Gemeinden außen vorlässt. Ausgerechnet jene Gebietskörperschaften also, die auf dem Weg der äußerst dynamischen und von Bundesland zu Bundesland verschiedenen Umlagen satte Stücke der Pflege finanzieren.
„Die Finanzierungsverantwortung sollte bei den Gemeinden tendenziell reduziert und zu Bund und Ländern hin verschoben werden. Das wäre eine wichtige Entlastung, damit sich die Gemeinden auf die Daseinsvorsorge und ihre eigentlichen Aufgaben konzentrieren können“, so Mitterer. Auf die Frage, ob es zielführender wäre, das höchst komplexe Pflegefinanzierungs-Labyrinth zu zerschlagen und neu aufzusetzen, sagt sie: „Es hätte natürlich Charme, das System auf dem Reißbrett neu zu entwickeln, aber ich glaube nicht, dass das realpolitisch machbar ist.“ Tja. Schade eigentlich.
Reformbedarf in der Elementarpädagogik. Die radikal klingende, theoretisch aber höchst reizvolle Reform-Vorgangsweise des Zerschlagens und Neu-Aufbauens wird wohl auch bei einem weiteren, jüngst ebenfalls mit einer Milliarde Euro zusätzlich bedachten Reformprojekt keine Möglichkeit sein. Die Elementarpädagogik ist ein nicht weniger kompliziertes Thema, das nicht weniger als die Pflege nach einer echten, nachhaltigen Reform lechzt. Weil Mitte 2022 die bis dato gültige 15a-Vereinbarung zur Elementarpädagogik ausgelaufen ist, musste eine neue Vereinbarung ausgearbeitet werden. Die Verhandlungen waren mit der Hoffnung gespickt, dass Österreich den nach wie vor fernen Barcelona-Zielen ein wenig näherrückt. Die Ziele durch die Einführung des Rechtsanspruchs auf Kinderbetreuung zu erreichen, ist dabei ein Weg, dem Karoline Mitterer nicht allzu viel abgewinnen kann. „Ich glaube, es ist wesentlich wichtiger, herauszufinden, warum die Ziele in dem Zeitraum nicht erreicht wurden. Das liegt sicher nicht nur am Geld. Eine Evaluierung wäre hier notwendig“, betont sie.
Die Gemeinden und Städte hatten im Vorfeld der Verhandlungen neuerlich auf die steigende Finanzierungslast und die Personalprobleme aufmerksam gemacht, die die kommunalen Spielräume extrem einengen. Im Auftrag des Städtebundes hatte das KDZ die Ist-Situation analysiert und festgestellt: „Die Reformbedarfe in der Elementarpädagogik sind vielfältig, worauf etwa auch die Europäische Kommission hinweist. So empfiehlt sie für Österreich: zumindest 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Elementarpädagogik aufzuwenden.“ Neben zahlreichen weiteren reformbedürftigen „Zutaten“ des österreichischen Systems ist die Finanzierung selbstverständlich ein Knackpunkt, die nachhaltige Finanzierung, um genau zu sein.
Doch die ist in der neuen 15a-Vereinbarung nicht zu entdecken. Wieder zückte die Regierung das Instrument der wohlklingenden „Milliarde mehr fürs System“. Diese Milliarde wurde jedoch rasch als fadenscheinig entlarvt. Von ÖGB-Vizepräsidentin Korinna Schumann und AK-Präsidentin Renate Anderl beispielsweise, die sagen: „Was uns als Milliarde verkauft wird, ist in Wirklichkeit ein populistischer Rechentrick. Eine Milliarde auf fünf Jahre zu verteilen, ist eindeutig zu wenig und bringt viel zu wenig Verbesserungen für Beschäftigte, Eltern und Kinder. Was wir brauchen, ist eine Milliarde Euro mehr pro Jahr, um die untragbare Situation in der Elementarpädagogik zu beenden.“
Die Enttäuschung über die von der Regierung verpasste Chance, die Kinderbetreuung den Bedarfen aller Betroffenen entsprechend neu aufzustellen, ist groß. Der Reformstau bleibt. Auch hier.