wirtschaft politik service

blende11.photo- stock.adobe.com

Tödliche Versäumnisse

Bis zu 100.000 Pflegefachkräfte müssten bis 2030 ausgebildet sein, um die wachsende Heerschar an Pflegebedürftigen, aber auch Patienten in den Krankenhäusern professionell zu betreuen. In der großen Zahl stecken zahlreiche Unmöglichkeiten und die zu reale Aussicht auf einen Pflege-Blackout, der nicht nur die Menschlichkeit gefährdet, sondern Menschenleben. Von Alexandra Keller

Es gibt Wahrheiten, die nur schwer zu ertragen sind. Die logische Folge des soviel beschriebenen Pflegenotstandes in Österreich zählt jedenfalls dazu. Angehörige, die frisch operierte Familienmitglieder im Krankenhaus füttern, Verbands- oder Windelwechsel vornehmen oder aufpassen, dass die Medikamente rechtzeitig verabreicht werden, spielen dabei die Hauptrolle. Was das - ganz abgesehen von der für medizinische Laien fast unmöglich zu tragenden Verantwortung – für den ganz alltäglichen Lebensplan bedeutet, der aus vielerlei Gründen bei den meisten Menschen straff durchgetaktet ist, ist leicht nachvollziehbar. Was das für die Patienten bedeutet, deren bestmögliche Genesung professioneller Pflege bedürfte, ist ebenso nachvollziehbar. Schleichend passiert dieses Abwälzen von sozialstaatlicher Verantwortung in Laienhände längst und der Irrsinn lässt sich durchaus steigern.

Im Juli 2021 schon sprach Gemeindebund-Präsident Alfred Riedl davon, dass „rund eine Million Menschen als pflegende Angehörige unmittelbar vom Thema Pflege und Betreuung betroffen“ sind. Riedl hielt das im Zusammenhang mit wieder einem Alarmruf dafür, dass die Pflegereform rasch umgesetzt werden müsse, fest. Eine Million. Jeder neunte Österreicher/jede neunte Österreicherin pflegt. Rund 80 Prozent der österreichischen Pflegegeldbezieher werden zu Hause betreut, die Hälfte davon ohne externe Unterstützung. Pflegende Angehörigen stoßen dabei immer wieder an ihre körperlichen und finanziellen Grenzen, müssen mit den zuständigen Behörden um Pflegestufen streiten und hoffen, dass der staatliche Zuschuss für den Treppenlift fließt, bevor der Schützling gänzlich immobil geworden ist.

Ewige Notlösungen. Die Liebe und Loyalität in den Familien bildet eine der wichtigsten Säulen, um das System aufrechtzuerhalten. Sie müssen immer mehr stemmen, während „der Staat“ seine fiesen Seiten nicht nur darin zeigt, Notlösungen bis zur Unendlichkeit zu perpetuieren, sondern auch darin, den die Pflege zum größten Teil stemmenden Frauen die kalte Schulter zu zeigen. Pflegekarenzgeld wird beispielsweise nur maximal 12 Monate bezahlt. In dieser Zeit dürfen die pflegenden Angehörigen ihre Arbeitszeit entsprechend verkürzen. Danach „dürfen“ so manche ihren Job – mit all den Einkommens- und Pensionsanspruchsverlusten – kündigen, etwa weil die Pflege aufwändiger wird, oder im Pflegeheim schlicht kein Platz zu bekommen ist. Sei es wegen langer Wartelisten, sei es wegen kalter Pflegebetten, die unbelegt bleiben müssen, weil das Personal fehlt.
Ob Österreich die Bezeichnung Wohlfahrtsstaat noch verdient, ist fraglich und die Pflegemilliarde rettet den Ruf nicht wirklich. Die Arbeiterkammer hatte für das Budget 2022 ein Pflegekrisen-Sofortmaßnahmenpaket in Höhe von 1,75 Milliarden vorgeschlagen. Insgesamt gibt Österreich rund 1,5 Prozent des BIP für Pflege- und Betreuungsleistungen aus. Echte Wohlfahrtsstaaten, wie Schweden oder Norwegen, budgetieren das Doppelte.

Hierzulande wird es zunehmend kälter. Laut der im November 2019 von der Gesundheit Österreich GmbH veröffentlichten „Pflegepersonal-Bedarfsprognose für Österreich“ waren 225.938 (2,6 Prozent) Österreicher im Jahr 2019 85 Jahre alt oder älter. „Bis 2030 wird die Zahl der über 85-jährigen Menschen um knapp 45 Prozent auf 327.000 Personen ansteigen“, heißt es in der Prognose. Passiert nichts Strukturelles, muss zwingend darüber nachgedacht werden, alle Österreicher mit einem Basiskurs auf ihren zeit- und energieraubenden Nebenjob Pflege vorzubereiten.

„Bereits heute werden Patienten unversorgt aus dem Krankenhaus entlassen, die früher niemals so entlassen worden wären. Und bereits heute gibt es in Tirol Mitbürger mit hohen Pflegestufen, die professionelle Pflege und/oder Betreuung dringend benötigen, aber keine bekommen – weil Personal fehlt“, stellt Thomas Strickner, Bereichsleiter Hauskrankenpflege und Heimhilfe der Innsbrucker Soziale Dienste GmbH, fest. Strickner, der regelmäßig Kommentare zum Thema für die Tiroler Tageszeitung verfasst und regelmäßig darauf hinweist, wie prekär die Pflegesituation ist, sieht das Land längst mitten im Pflege-Blackout und kann kurzfristig kein Best-Case-Szenario ausmachen. Er sagt: „Der Karren ist verfahren. Da müssen wir jetzt durch. Mittelfristig ist darauf zu hoffen, dass das Problem erkannt und lösungsorientiert gehandelt wird.“

Erhöhte Sterberate. Aktuell wird das Prinzip Hoffnung ziemlich torpediert. Schmerzhaft sind die Löcher, die dabei ins österreichische Gesundheitssystem gerissen werden. Anfang November 2022 wurde beispielsweise bekannt, dass der Primar der Kinder- und Jugendheilkunde in der Klinik Floridsdorf seinen Job wegen Personalmangels gekündigt hat. Dass in österreichischen Spitälern Krankenhausbetten oder ganze Stationen aus Mangel an medizinischem und/oder pflegendem Personal gesperrt werden, hat nichts mehr mit Corona zu tun und ist wegen der Häufigkeit kaum noch alarmierende Schlagzeilen wert. „Die Versorgung in Heimen und Spitälern hat einen kritischen Punkt erreicht, der zu patientengefährdenden Zuständen führen kann“, hob Johannes Steinhart, Präsident der Österreichischen und Wiener Ärztekammer, im August des Jahres einen mahnenden Finger. Wie eigentlich jede Institution, die mit Pflege zu tun hat schlägt auch die Ärztekammer schon lange Alarm und Mitte Oktober 2022 wurde das permanente Blaulicht noch greller.

Mit der Studie „MissCare Austria“ hat die Karl Landsteiner Privatuniversität verstörende Einblicke in den Personalmangel-bedingten Defizitreigen an den Spitälern geliefert (www.misscare-austria.univie.ac.at).
Die Autoren haben sich dabei der „Missed Nursing Care“ (MNC) gewidmet, also der Rationierung von Pflegetätigkeiten. Über 1.000 auf Allgemeinstationen österreichischer Krankenhäuser beschäftigte Pflegefachkräfte wurden dafür befragt. 84 Prozent der Befragten gaben an, dass sie oder ihr Team „in den vergangenen zwei Wochen“ mindestens eine für die Patientenversorgung notwendige Tätigkeit weglassen mussten. An erster Stelle (67,5 Prozent) steht der Verzicht auf emotionale Unterstützung. So wichtig das heilsam-empathische Gespräch mit den Patienten ist, so rasch wird es bei der Triage, die Pflegende im Sekundentakt bewerkstelligen müssen, nach hinten gereiht. Nicht nur das. Die Überwachung von kognitiv Beeinträchtigten, die Mobilisierung der Patienten oder deren Beratung vor der Entlassung musste bis zu 50 Prozent ausfallen.
Prozentzahlen wirken im Zusammenhang mit Menschen, die in einer existenziellen Ausnahmesituation im Spital liegen, fast zu trocken. Immer sind Menschen betroffen, immer wirken sich Überlastung und Zeitnot der Pflegekräfte negativ auf ihre Heilung aus. Hinter jeder nicht erbrachten Leistung oder ausgelassenen Maßnahme stecken genau jene Folgen, die mit ebendiesem Prozedere verhindert werden sollten. Dass das zeitnahe Reagieren auf die Glocke (39,2 Prozent), das zeitgerechte Verabreichen von Medikamenten (27,6 Prozent) oder das Messen von Vitalparametern (26,5 Prozent) den systembedingten Mängeln zum Opfer fallen, wirkt sich auch auf die Psyche und Belastungstoleranz der Pflegenden aus.
Bei den Patienten sinken durch Missed Nursing Care nicht nur die Chancen, nach allen Regeln der medizinischen Kunst zu genesen – für sie steigt auch die Chance, zu sterben. Internationalen Studien zufolge führt MNC zu einer erhöhten Sterberate, zu mehr postoperativen Komplikationen, mehr Stürzen und mehr Infektionen. Ein weiteres Ergebnis der aktuellen MissCare Austria-Studie besagt zudem, dass fast drei Viertel der Befragten den Beruf verlassen wollen.

Demografischer Hammer. Die Flucht der Pflegefachkräfte aus ihrem Beruf wird bereits mit dem hässlichen Wort Pflexit beschrieben und dieser Pflexit verschärft die Lage extrem. „Wie in der Ärzteschaft haben auch schon etliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Pflegebereich ihre Jobs aufgegeben oder planen das in naher Zukunft“, hielt Naghme Kamaleyan-Schmied, stellvertretende Obfrau der Kurie niedergelassener Ärzte der Ärztekammer für Wien, Ende August 2022 in einer Presseaussendung fest. Hinzu komme, dass etwa ein Drittel der Pflegefachkräfte älter als 50 Jahre alt ist und in den nächsten Jahren in Pension gehen wird. Damit und mit dem demografisch bedingten höheren Pflegebedarf der immer mehr und immer älter werdenden Menschen, wird die Zukunft in ein finsteres Licht getaucht. Erhellt werden würde es nicht nur durch ein entsprechendes Erwachen der politisch Verantwortlichen, eine rege Investitionstätigkeit oder ein Umsetzen der geduldig in den Schubladen wartenden Reformpapiere.

Hell würde es auch, wenn gleichsam über Nacht rund 100.000 Menschen sich für den Pflegeberuf entscheiden würden. Doch die meist negative Berichterstattung zum Pflegenotstand und den Arbeitsbedingungen der Pflegenden befeuert den Teufelskreis insofern, als dass der Beruf dadurch sukzessive in Verruf gerät. Wie kann dieser Kreis durchbrochen werden? „Der Samariterbund hat heuer die Kampagne #samaritergepflegt gestartet, um Positives sowohl für Gepflegte als auch Pflegemitarbeiter hervorzuheben. Wir dürfen aber nicht dazu verleitet werden, Pflege mit Aufopferung gleichzusetzen. Natürlich braucht es einfühlsame Mitarbeiter, aber das Festhalten am veralteten Bild einer Person, die unterwürfig lediglich für Dank arbeitet, verhindert gleichsam Gehaltsverbesserungen wie auch die gesellschaftliche Anerkennung der Pflege als wertvollen Gesundheitsberuf“, ist etwa Reinhard Hundsmüller, Bundesgeschäftsführer des Samariterbundes Österreich, überzeugt.

„Das ist das Henne-Ei-Problem. Führt der Personalnotstand zur negativen Berichterstattung oder führen negative Berichte zum Personalnotstand? Tatsache ist, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt – eine Spirale nach unten“, meint Thomas Strickner. Er plädiert dennoch für eine Berichterstattung, die ohne Rücksicht auf Schmerzen und Befindlichkeiten ihre Finger in die Personalwunde legt, damit Poilitiker endlich reagieren. Strickner: „Ohne medialen Druck geht leider gar nichts. Wir benötigen aber auch Politiker, die den Intellekt haben, das Problem zu erkennen und die Kompetenz mitbringen, an den richtigen Schrauben zu drehen.“ Wenn diese Politiker in die Gänge kommen, kann auch die Berichterstattung darüber, wie schön der Pflegeberuf ist, wirken. Ohne ausreichend vorhandenes Pflegepersonal müssen die österreichischen Angehörigen die politischen Versäumnisse kompensieren. Tödliche Versäumnisse.

 

Information

Studie „MissCare Austria“ von der Karl Landsteiner Privatuniversität

»     www.misscare-austria.univie.ac.at