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 Foto: morgan rauscher - Adobe Stock

Crash mit Ansage

Zahllose Einzelberichte über das faktische Versagen machen die Warnungen vor dem Zusammenbruch des österreichischen Gesundheitssystems stückweise wahr. Frauen, Kinder, Jugendliche sowie von Armut betroffene und armutsgefährdete Österreicher leiden längst unter den Eruptionen der Ungerechtigkeiten und Versäumnisse.
Von Alexandra Keller

Katharina Kieslich stellt die Frage der Fragen. Das Austrian Corona Panel Projet (ACPP) hatte im Oktober 2022 auf Basis einer Umfrage festgehalten, dass sich die Befragten mehr Ausgaben im Bereich Gesundheit wünschen und Kieslich, Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien, fragt: „Sind wir bereit, hierfür in anderen Bereichen staatliche Leistungen in einem geringeren Ausmaß zu akzeptieren?“ Ja, sind wir das? „Mittelfristig werden Politik und Gesellschaft das Thema Prioritätensetzung nicht vermeiden können“, sagt Kieslich auch und unterstreicht damit, dass die anstehenden Entscheidungen groß sind, richtig groß und von selten starker gesellschaftlicher Relevanz.

An allen Ecken spitzen sich die Probleme zu. Der Personalnot geschuldete kalte Betten in Krankenhäusern und Pflegeheimen, Engpässe bei lebens- oder überlebenswichtigen Medikamenten und verschlechterte Zugänge zur Gesundheitsversorgung auch wegen des ausgedünnten niedergelassenen Bereichs sind nur ein paar Brandherde, die Rauschschwaden verursachen und das freie Atmen zunehmend erschweren. „Wenn bei Problemen im Gesundheitssystem nicht rechtzeitig gegengesteuert wird, dann wirkt sich das negativ auf die Gesellschaftsgruppen aus, die aufgrund anderer sozioökonomischer Faktoren bereits schlechter gestellt sind“, legt die auf Gesundheitspolitik spezialisierte Politologin den Finger auf eine Wunde, die in der Hitze der Gefechte immer größer wird und immer unwürdiger für ein Land, das sich nach wie vor seiner herausragenden medizinischen Versorgung rühmt.

Bittere Wahrheiten. Zum Teil ergeben die Rechnungen, die im Zusammenhang mit den Problemen des Gesundheitssystems angestellt werden, auf den ersten Blick wenig Sinn. Die Ende März 2023 präsentierte OECD-Studie „Health at a Glance“ hat beispielsweise neuerlich aufgezeigt, dass Österreich für das Gesundheitssystem mehr ausgibt als die meisten anderen OECD-Länder und im Vergleich auch mehr Gesundheitspersonal zu bieten hat. Die Verteilung der Mittel und des Personals ist jedoch die Crux und logisch denkende oder auf die Zukunft des Ganzen blickende Strategen beißen sich regelmäßig die Zähne an den verfahrenen Zuständigkeiten, den hart verteidigten Revieren und den nach Gesichtspunkten der Parteipolitik mehr als auf Basis von Kompetenzen besetzten Entscheider-Positionen aus. Diese Arena, in der sich Regierungsverantwortliche in Bund und Ländern, Krankenkassenvertreter, Ärztekammer und allerlei sonstige Lobbyisten in lang geübter Tradition nur in Mäuseschritten bewegen, ist die eine üble Seite. Die andere, nicht minder üble setzt sich aus den ganz faktischen Auswirkungen der verkorksten Interessenspolitik auf die Gesundheit, das Wohlbefinden und die Menschenwürde zusammen. Diese Seite lässt sich nicht schönreden.

„Gesundheit darf keine Frage des Geldes und des Einkommens sein“, hielt Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) fest, als die OECD-Studie präsentiert wurde. Gesundheitsleistungen auf hohem Niveau müsse es in Österreich für alle geben, betonte Rauch auch. Werden seine beiden Feststellungen als Zukunftsziel definiert, steckt in ihnen eine bittere Beschreibung der Gegenwart.

Sechsklassenmedizin. Nicht das Ministerium, sondern die Pharmafirma Sandoz hat vergangenes Jahr das Institut für empirische Sozialforschung (IFES) mit einem tiefen Blick in die Volksmeinung zum Gesundheitswesen Österreichs beauftragt. Die Ergebnisse sind in den „Austrian Health Report“ geflossen, der Ende September 2022 präsentiert wurde und unter anderem in der Feststellung mündete, dass für Österreich der Begriff der Zweiklassenmedizin zu kurz greife. Als „Sechsklassenmedizin“ bezeichnete die Expertin von Transparency International (TI), Andrea Fried, den Zustand gegenüber dem ORF. Alarmierend sei, dass 80 Prozent der Befragten der Meinung seien, dass Patienten die es sich leisten können, in Österreich schneller behandelt werden und nur 22 Prozent das System als fair bezeichnen. Diese Meinung habe sich verfestigt, obwohl der Zugang zu Gesundheitsleistungen in Österreich sehr niederschwellig und die medizinische Versorgung sehr gut sei.

Das Vertrauen ist es allerdings nicht und die Überzeugung der Einzelnen wird quasi systematisch gefüttert. So erklärte Fried, dass die „Sechsklassenmedizin“ von Unterschieden in den Leistungsspektren der verschiedenen Krankenversicherungsträger über private Zusatzversicherungen und Privatzahlungen bis zu Menschen, die gar keinen Krankenversicherungsschutz haben, reiche. Das Nutzen von persönlichen Beziehungen kommt erschwerend hinzu, hatte das TI-Korruptionsbarometer 2021 doch ergeben, dass in Österreich 36 Prozent der Befragten persönliche Beziehungen nutzten, um eine in einem öffentlichen Krankenhaus benötigte Leistung zu erhalten. Europaweit ist das Gesundheitswesen als „Hotspot“ für Korruption entlarvt worden und Österreich sticht im Vergleich zu den meisten westeuropäischen Ländern mit einer überdurchschnittlichen Bestechungsquote hervor.

Das unterdurchschnittliche Vertrauen in die Fairness des Systems mag in der massiven Ausprägung überzogen sein, doch zeigt der Blick in jene Bevölkerungsgruppen, deren Lobbyisten keinen Armani-Anzug und kein Gucci-Röckchen tragen, dass nicht nur die Volksmeinung „alarmierend“ ist.

Arm, jung, krank. „Innerhalb der sozial- und gesundheitspolitischen Diskussion spielt die Ungleichbehandlung von armutsbetroffenen und armutsgefährdeten Menschen nach wie vor nur eine geringe Rolle, obwohl die Zusammenhänge zwischen Armut und Gesundheit beziehungsweise Krankheit durch zahlreiche Studien hinlänglich erwiesen sind“, stellt das Netzwerk Armutskonferenz fest.

Im 1995 gegründeten Netzwerk sind über 40 soziale Organisationen aktiv, die pro Jahr über 500.000 Menschen unterstützen und begleiten und damit einen ungefilterten Blick in die Situation der Betroffenen haben. Berechnungen der Statistik Austria zeigen, dass 2022 201.000 Menschen in Österreich in Armut lebten – 41.000 mehr als noch 2021. Zudem gelten mehr als 17 Prozent der Österreicher als armuts- oder ausgrenzungsgefährdet, darunter 353.000 Kinder und Jugendliche.

Die Zahlen sind ernüchternd und Martin Schenk, Mitbegründer der Armutskonferenz, betont gegenüber public: „Im Gesundheitssystem und in der Prävention hierzulande gibt es große Herausforderungen und Lücken. Kinder mit Entwicklungsbelastungen muss ein kostenfreies, jederzeit zugängliches und bedarfsdeckendes Angebot an diagnostisch-therapeutischen Maßnahmen zur Verfügung stehen. Das beginnt bei der fachärztlichen wie therapeutischen Versorgung und den aufsuchenden Diensten, geht über spezialisierte Ambulatorien bis hin zur Kinder-Rehabilitation. In der Psychotherapie und psychologischen Behandlung gibt es weiter große Lücken und lange Wartelisten. Die Versorgungslücke liegt bei der Leistbarkeit, aber auch bei den langen Wartezeiten und der Mangelversorgung in ländlichen Regionen.“

Dass sich das Leiden der Jungen durch die Corona-Krise multipel verschärft hat, wird fast schon zu oft diskutiert, findet aber trotz all der ausweglosen und von Zukunftsängsten gezeichneten Schicksale kaum Niederschlag in entsprechend akuten Maßnahmenkatalogen. „Aktuell gibt es in Österreich rund 300 Kassenfachärzte für Kinder- und Jugendmedizin. Gleichzeitig gibt es mit 327 Wahlärzten in diesem Bereich mehr privat finanzierte Gesundheitsleistungen. Das kassenfinanzierte Angebot bleibt in dieser Situation zurück und ist bei Weitem nicht ausreichend, um den Bedarf an kostenlosem Zugang zu decken“, weiß SOS-Geschäftsführer Christian Moser und hält weiter fest: „Eltern, die schneller zu Terminen für ihre Kinder kommen möchten, müssen dafür tief die eigene Tasche greifen. Wer sich zwischen 100 bis 200 Euro pro Termin nicht leisten kann, muss mit den Auswirkungen leben. In ländlichen Regionen führt der Mangel an Fachärzten oft dazu, dass Kinder von Allgemeinmedizinern mitbetreut werden. Diese Situation können wir nicht akzeptieren. Die Lebens- und Gesundheitssituation von zahlreichen Kindern steht damit am Spiel.“

Drastischer kann die aktuelle Situation kaum beschrieben werden und doch lässt sich das dramatische Moment steigern. Etwa, wenn Paul Plener, Leiter der Wiener Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, zu Wort kommt. Anfang April 2023 sagte er: „Im Vergleich zu vor der Pandemie haben wir im vergangenen Jahr dreimal so viele Patienten nach Suizidversuchen gehabt.“

Arme und armutsgefährdete Menschen, Arbeitslose, chronisch Kranke oder Kinder und Jugendliche haben eines gemeinsam. Sie werden nicht der Leistungsgesellschaft zugerechnet, die seit dem neoliberalen Dammbruch Takt und Ton in der Politik angibt.


Knackpunkt Frauengesundheit. Dass der Abschied vom Sozial- und Wohlfahrtsstaat sich auch in der Gesundheitspolitik niederschlägt, versteht sich fast von selbst. Von diesem Geist war schließlich Arbeitsminister Martin Kochers Vorstoß gekennzeichnet, Sozialleistungen bei Teilzeitbeschäftigten kürzen zu wollen. Und damit vor allem die Frauen zu treffen, die auch im Zusammenhang mit den unfairen Auswüchsen im Gesundheitssystem auf der Looser-Liste stehen – und das nicht erst seit gestern oder seit Corona.

Als Mitte Februar 2023 nach zehn Jahren erstmals wieder ein Frauengesundheitsbericht veröffentlicht wurde, hatte Minister Rauch genauso entlarvende Worte gefunden wie bei der Präsentation des OECD-Berichtes. „Es braucht einen spezifischen Blick auf die Frauengesundheit“, sagte er da, sprach von einem notwendigen Perspektivenwechsel im Gesundheitssystem und hielt fest: „Der Blick in der Gesundheitsversorgung ist immer noch auf Männer gerichtet.“

Wäre er das nicht, würden wissenschaftliche Studien, die belegen, dass ein eingeschränkter Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen den Frauen gesundheitlich schadet, entscheidender und gewichtiger bewertet als die Privatmeinung reaktionärer Politiker. Wäre er das nicht, müssten Frauen, die an der oft mit schmerzhaften Wucherungen im Bauchraum verbundenen Unterleibserkrankung Endometriose leiden, keine acht bis zehn Jahre dauernde, nervenaufreibende Odyssee auf sich nehmen, um zu einer richtigen Diagnose zu kommen. Eine von zehn Frauen ist davon betroffen. Obwohl sie als typische Männerkrankheiten gelten, sind 2021 35,7 Prozent der Frauen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen gestorben, was nicht nur auf den hohen Stresspegel durch Doppel- und Dreifachbelastungen sowie Armut zurückgeführt wird, sondern auch auf verspätete Diagnosen sowie fehlerhafte Behandlungs- und Medikationspläne. Obwohl mehr Frauen an Herzinfarkten sterben als Männer, sind ihre Symptome kaum bekannt.

Darin, Frauen in weiten Teilen der medizinischen Landschaft nach wie vor nicht ernst zu nehmen und in anhaltender Ignoranz als „leichte Männer“ zu sehen und zu behandeln, steckt ein eigentlich unfassbarer Skandal des Systems. Ein Skandal, der dadurch befeuert wird, dass jede vierte Frau über 65 Jahren armutsgefährdet ist und laut jüngsten Daten der Statistik Austria bereits 568.000 Frauen von Armut betroffen sind – mit all den bekannten Auswirkungen auf ihre Gesundheit und Lebensqualität.

Wilhelm Marhold, Chef der städtischen Wiener Spitäler, sagte Anfang April 2023: „Wenn wir so weitermachen wie bisher, fährt das System an die Wand.“ Für Frauen, Kinder, Jugendliche sowie von Armut betroffenen und armutsgefährdeten Österreichern ist das längst passiert.