Foto: Gemeinde Gerasdorf
Manche Städtepartnerschaften können auf eine jahrzehntelange Geschichte zurückblicken, während andere erst seit Kurzem bestehen. Eine der jüngsten ist jene zwischen Gerasdorf bei Wien und Tótkomlós in Ungarn, die erst im Vorjahr geschlossen wurde. Was sie jedoch besonders macht, ist die traurige, aber im gewissen Sinne auch herzerwärmende Geschichte, die sich hinter ihr verbirgt. Von Michael de Werd
Im Jahr 1944 befand sich direkt neben dem Bahnhof ein Lager, wo um die 270 Männer, Frauen und Kinder in zwei Baracken untergebracht waren. „Es war ein Anhaltelager, wo vor allem ungarische Juden von der SS festgehalten wurden, um zu arbeiten oder weitergeschickt zu werden“, erzählt Alexander Vojta im Gespräch mit public. 70 Jahre nach Kriegsende fing man in Gerasdorf an, die Geschichte näher zu erforschen. „Im Zuge der Recherchen hat sich herausgestellt, dass von den Personen, die das Lager überlebt haben, einer noch am Leben war, der zufällig auch ein Literat und Publizist war.“
Es handelte sich um István Gabór Benedek, der als siebenjährige nach Gerasdorf kam. Seine Mutter Rózsa musste bei der Bäckersfrau Anna Seidl arbeiten. Als Rósza ihr Ratschläge gab, wie man die wertvollen Teppiche am besten reinigen sollte, bemerkte Seidl, dass sie aus guten Verhältnissen stammte. Die Kinder durften in der Küche Kakao trinken. Als sie weitergeschickt wurden, bekamen sie warme Kleidung mit. „Durch den Mantel von Helmut Seidl konnte ich die Kälte im KZ Bergen-Belsen überleben“, erinnerte sich Benedek. „Tatsächlich haben wir uns oft daran erinnert, wie wir mit warmem Kakao und Butterstriezel mitten im Hitlerreich während des Holocausts empfangen wurden. Für diese Geste konnten wir uns erst nach dem Krieg, als wir wieder nach Ungarn heimgekehrt waren, bedanken.“
Nach dem Krieg wurde Benedek Journalist und war von 1983 bis 1989 stellvertretender Leiter der größten ungarischen Tageszeitung Népszabadság. 2017 wurde ihm von Gerasdorf die Ehrenbürgerschaft verliehen. „Er war ein ganz netter und sympathischer Mensch – wie ein Opa, dem es darum geht zu erinnern und nicht zu vergessen und zu versöhnen“, erinnert sich Vojta. „Was er uns mitgegeben hat, leben wir heute.“ Die Gemeinde Gerasdorf und die betroffenen Personen wurden für ihre Aktivitäten belohnt mit dem MENSCH Award, einem jüdischen Preis für Verdienste für die Menschlichkeit.
Gelebte Versöhnung. Daneben hatte die Geschichte noch andere Folgen. Bei der Verleihung der Ehrenbürgerschaft war auch Zóltán János Zsura, der Bürgermeister von Benedeks Geburtsort Tótkomlós, anwesend. Die beiden Bürgermeister freundeten sich an und trafen einander wieder bei einer Gedenkfeier in Gerasdorf, wo eine Straße nach Benedeks Mutter benannt wurde. „Nach wenigen Stunden wurde der Gedanke geäußert, wie es wäre, wenn wir eine Städtepartnerschaft bilden“, erinnert Zsura sich. „Uns gefiel die Idee gut und im Sommer nahmen wir die Initiative, um unsere Partnerschaft am 20. August 2022 in Tótkomlós offiziell zu unterschreiben.“
István Gabór Benedek konnte dies gerade noch erleben, starb aber wenige Wochen später. Wie Zsura erzählt, war er schon vorher eine bekannte Person: „Ich habe zu Hause seinen Erzählband A komlósi Tóra, von dem es schon verschiedene Auflagen gegeben hat.“ Obwohl in Ungarn noch immer nicht viel über die Judenverfolgungen gesprochen wird, versucht man die Jugend besser zu informieren: „Auf diese Art wollen wir die Erinnerung erhalten, damit solche schlimmen Ereignisse nicht wieder passieren.“ Alexander Vojta sieht in der Partnerschaft auch „eine gelebte Geste der Versöhnung zwischen zwei Völkern, die auch eine dunkle Vergangenheit haben“.
In manchen Hinsichten sind die Partnerstädte grundverschieden. Während Gerasdorf eine typische Pendlergemeinde im Umland von Wien ist, hat Tótkomlós noch immer einen ländlichen Charakter. Die Stadt befindet sich 177 südöstlich von Budapest und ist gerade 17 Kilometer von der rumänischen Grenze entfernt. Gut 20 % der Bevölkerung sind Slowaken, die nach den Türkenkriegen den Ort wieder neu aufgebaut haben. Buchstäblich bedeutet der Ortsname „slowakischer Hopfen“. Da es in der Nähe keine größeren Ortschaften gibt, fungiert sie als ein regionales Zentrum. Es gibt eine Thermalquelle und zweimal wöchentlich einen Markt.
Pensionisten, Blasmusik und Fußball. Für Zsura haben beide Städte aber im Grunde genommen das gleiche Ziel: den höchsten Lebensstandard und die bestmöglichen Dienstleistungen zu erzielen: „In Vergleich zu Österreich sind wir ein wenig hinten, aber ich habe Vertrauen, dass die Partnerschaft hilfreich sein wird für Tótkomlós.“ Im März gab es ein erstes Arbeitstreffen, wo über die künftige Zusammenarbeit gesprochen wurde. Wie Vojta erzählt, liegen die Schwerpunkte momentan in den Bereichen Kultur, Sport und Pensionisten. Ab nächstem Jahr wird es Seniorenfahrten nach Tótkomlós geben und in umgekehrte Richtung. Auch Dominik Hinterleitner, der Obmann des 1. Gerasdorfer Musikvereins, freut sich auf 2024, wenn die Blasmusiker aus Gerasdorf als einzige österreichische Vertreter an einem großen Musikfest teilnehmen werden, das alle fünf Jahre in Tótkomlós stattfindet: „Gerade im klassischen Bereich wird auch in Österreich gerne Ungarisches gespielt wie der Csardas. Und auch die gemeinsame Vergangenheit in der Musik lebt noch weiter.“ Obwohl es wegen der Verlockungen der nahen Großstadt schwerer ist, junge Leute für das Musizieren zu begeistern, hat der Verein ständigen Zuwachs. „Es macht immer einen enormen Spaß, wenn man einen gemeinsamen Ausflug mit Musik verbinden kann.“
Den Anfang wird aber die jüngste Generation machen. Zu Pfingsten wird bei einem Fußballturnier in Gerasdorf eine U11-Mannschaft aus Tótkomlós teilnehmen, wobei sich die Gemeinde um das Rahmenprogramm kümmern wird. Thomas Insam, der Obmann des SV Gerasdorf, findet die Idee ausgezeichnet: „Fußball verbindet. Es macht den Kindern immer Spaß, wenn sie andere Leute kennenlernen, die vielleicht auch eine andere Sprache sprechen.“