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Die Hoffnungen, dass im Zuge der FAG-Verhandlungen das österreichische Pflegesystem jene systemischen und finanziellen Kicks bekommt, die es ganz dringend braucht, sind schwindend. Der dafür nötigen Zusammenarbeit der Gebietskörperschaften hat der Bund schon zu Beginn der Verhandlungen die lange Nase gezeigt.
Von Alexandra Keller
Wann hat das österreichische Pflegesystem eigentlich zu bröckeln begonnen? „Es war ein schleichender Prozess, der im Grunde mit der Einführung des so wichtigen Gesundheits- und Krankenpflegegesetzes 1997 begonnen hat. Wichtige Schritte, die es danach gebraucht hätte, sind nicht oder zu spät erfolgt. Dadurch sind wir seither in einem Change-Prozess und kommen zu keiner Konsolidierung im Ausbildungssystem. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Praxis“, kann Elisabeth Potzmann, Präsidentin des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes (ÖGKV), nicht nur den Startschuss der Versäumnisse ziemlich exakt datieren – sie kann auch einige Versäumnisse ziemlich exakt definieren, die sich unter anderem im eklatanten Personalmangel niederschlagen, der die angemessene Betreuung der Betroffenen zu einem humanitären Drahtseilakt macht: „Aus unserer Sicht hätte man mit der Überführung der Ausbildung an die Fachhochschule die bisherige Diplomausbildung sofort einstellen müssen.
Die Doppelgleisigkeit führt erstens zur Unruhe und zweitens dazu, dass die Akademisierung auf halbem Wege stecken bleibt. Außerdem konnte dadurch die Pflegefachassistenz nicht Fuß fassen, was letztendlich zur Einführung einer weiteren Ausbildung, nämlich der der Pflegelehre geführt hat. Das Ausbildungs- und Kompetenz-Chaos wird damit immer größer. Gleichzeitig fehlt die Spezialisierungsverordnung immer noch, was wir bei der Fachkarriereentwicklung negativ spüren. Konsequenterweise hätten sich mit der Besserqualifizierung der Pflegenden auch deren Kompetenzen ändern müssen.“
Das System zerbröckelt. Hätte, hätte, hätte. Im Zusammenhang mit nicht erfolgten politischen Weichenstellungen gibt es kein böseres Wort. 1997 war erstmals Viktor Klima (SPÖ) österreichischer Bundeskanzler. Ihm folgte ab 2000 Wolfgang Schüssel (ÖVP), dann kam – kurz – Alfred Gusenbauer (SPÖ), dann Werner Faymann (SPÖ – von 2008 bis 2016), den – wieder kurz – Christian Kern (SPÖ) ablöste, bevor mit Sebastian Kurz (ÖVP) der chaotische Schlingelkurs an Österreichs Regierungsspitze begann – über Brigitte Bierlein, neuerlich Sebastian Kurz (ÖVP) und Alexander Schallenberg (ÖVP) bis hin zu Karl Nehammer (ÖVP), der sich seit 6. Dezember 2021 Bundeskanzler nennen darf.
Im März 2023 hielt Nehammer eine Rede zur Zukunft der Nation. Auch die Pflege streifte er darin, meinte in wackeliger Annäherung an Hamlet, dass „da auch zum Teil etwas falsch laufe im Staat“ und forderte den Sofortzugang zum Arbeitsmarkt für Pflegekräfte aus aller Welt, vor allem von den Philippinen oder aus Südamerika. Mit neuen Visa-Regeln für 10.000 ausländische Pflegekräfte versuchte er zudem eigentümlich kolonialistisch anmutende Tatkraft zu signalisieren, zwar, um das System selbst zwar nicht zu tangieren, aber all die dunklen Zahlen auch nicht gänzlich zu ignorieren. Laut der im November 2019 von der Gesundheit Österreich GmbH veröffentlichten „Pflegepersonal-Bedarfsprognose für Österreich“ waren 225.938 (2,6 Prozent) Österreicher im Jahr 2019 85 Jahre alt oder älter. „Bis 2030 wird die Anzahl der über 85-jährigen Menschen um knapp 45 Prozent auf 327.000 Personen ansteigen“, heißt es in der Prognose auch.
Diese Zahl hängt wie ein Damoklesschwert über dem zerbröckelten System, zu dem Thomas Strickner, Bereichsleiter Hauskrankenpflege und Heimhilfe der Innsbrucker Soziale Dienste GmbH, im Mai 2023 gegenüber public ein erschreckendes Bild skizzierte: „Bereits heute werden Patienten unversorgt aus dem Krankenhaus entlassen, die früher niemals so entlassen worden wären. Und bereits heute gibt es in Tirol Mitbürger mit hohen Pflegestufen, die professionelle Pflege und/oder Betreuung dringend benötigen, aber keine bekommen – weil Personal fehlt. Der Karren ist verfahren. Da müssen wir jetzt durch. Mittelfristig ist darauf zu hoffen, dass das Problem erkannt und lösungsorientiert gehandelt wird.“
Kritik an Prozess. Das Kümmern um die alten und pflegebedürftigen Menschen ist eine der wichtigsten und edelsten Aufgaben des Staates beziehungsweise seiner Gebietskörperschaften. Deren materiell-rechtliche Verhältnisse sind im österreichischen Finanzausgleichsgesetz geregelt, der mit seinem eingebauten Erneuerungsrhythmus theoretisch sogar dazu prädestiniert wäre, nach dem Erkennen von Problemen lösungsorientiert zu handeln.
Ende 2022 wurde die neue Runde für die Verteilungsschlüssel von Aufgaben und Steuermitteln zwischen Bund, Ländern und Gemeinden eingeläutet, doch können im Zusammenhang mit dem Thema Pflege kaum lösungsorientierte Ansätze für die mittelfristige Zukunft ausgemacht werden – von der langfristigen ganz zu schweigen. „Bei der Pflege-Taskforce hat man das Thema Finanzierung bewusst ausgespart und auf die FAG-Verhandlungen verwiesen. Jetzt ist man in den FAG-Verhandlungen und sagt, man kann eigentlich nichts machen, wenn keine Reformen stattfinden. Man zeigt da von einem Prozess zum anderen und in Summe geht nichts weiter“, stellt Karoline Mitterer, Mitarbeiterin des KDZ und Expertin auch in Pflegefragen, fest. Mitterer ist nicht nur aber ganz besonders bei der Organisation der Pflege eine Verfechterin einer verbesserten Mehrebenensteuerung in dem Sinn, dass Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam Ziele verfolgen, Maßnahmen definieren und die Finanzen dazu aufstellen. Solange Rück- oder Fortschritte allein von den handelnden Personen, nicht aber von der Struktur oder den klar definierten Prozessen abhängen und die Verhandlungen eher einem Wettkampf der Gebietskörperschaften gegeneinander gleichen als einem gemeinsamen Kampf für eine bessere Zukunft, müssen die Erwartungen niedrig bleiben. Mitterer: „Wir haben da eine schlechte Kultur.“
Probleme für Gemeinden. Die schlechte Kultur, die sie anspricht, hat der Bund gleich zu Beginn der FAG-Verhandlungen mit erstaunlicher Chuzpe zelebriert. „Eine besonders unfreundliche Forderung des Bundes wird in allen seinen drei Positionspapieren postuliert – nämlich jene nach der Nicht-verlängerung des § 24 FAG. Diese jährlichen 300 Millionen Euro, die im November 2016 das FAG-Paktum erst ermöglicht hatten und einen Teil der Kostensteigerungen unter anderem in den Bereichen Gesundheit, Pflege und Soziales der Länder und Gemeinden abdecken, speisen nämlich auch die jährlichen 60 Millionen Euro an Strukturfondsmitteln“, betonte der Österreichische Gemeindebund Ende März 2023.
Für Städte und Gemeinden zeigt sich bei der Pflege das Problem, dass sie damit einen Aufgabenbereich beträchtlich mitfinanzieren müssen, jedoch gleichzeitig keine entsprechenden Mitbestimmungsrechte haben. Je nach Bundesland haben die Kommunen zwischen 30 und 50 Prozent der Ausgaben der Länder für Pflegedienstleistungen zu tragen. In einzelnen Ländern sind sie auch selbst Träger von Pflegeheimen. „Insbesondere die hohe Dynamik stellt die Städte und Gemeinden vor große Herausforderungen. So erhöhte sich der Anteil der Sozialhilfeumlagen an den Ertragsanteilen im Zeitraum 2009 bis 2019 von 22,4 auf 24,1 Prozent. Im Krisenjahr 2020 lag der Anteil sogar bei 27,2 Prozent. Durch diese Verschiebung hin zum Sozialbereich verbleiben den Gemeinden immer weniger finanzielle Spielräume für die originär kommunalen Aufgaben wie insbesondere die weiteren Bereiche der kommunalen Daseinsvorsorge“, stellt der Österreichische Städtebund klar und hält zudem fest: „Im letzten Nachhaltigkeitsbericht des Fiskalrates geht dieser von einer dynamischen Entwicklung der Ausgaben im Pflegebereich aus. Demzufolge steigen die Ausgaben von 1,2 Prozent des BIP im Jahr 2019 auf 3,1 Prozent des BIP im Jahr 2070. Der Großteil der Ausgabensteigerungen wird im Bereich der Pflegedienstleistungen erwartet, welcher von Ländern und Gemeinden getragen wird.“
Schwierige FAG-Verhandlungen. Weil die besonders heiklen und besonders dynamischen Bereiche erst am Ende des FAG-Verhandlungszyklus diskutiert werden, stehen die Forderungen des Bundes wie ein dunkles Omen im Raum. Dazu zählt auch, dass der Bund zwar eine Ausweitung der derzeit zur Gänze aus EU-Mitteln geförderten Community Nurses anstrebt, eine Finanzierungsbeteiligung aber ablehnt. „Im Bereich der mittlerweile völlig unterfinanzierten 24-Stunden-Betreung ist der Bund nicht bereit, zusätzliche Fördermittel in die Hand zu nehmen – somit wird sich der Drang in stationäre Einrichtungen auch aus dieser Personengruppe verstärken. Auch will sich der Bund aus der Finanzierung der 2022 befristet eingeführten Unterstützungen für die Entgelterhöhung und Pflegeausbildung zurückziehen und somit die vollen Kosten auf Länder und Gemeinden überwälzen“, heißt es aus dem Gemeindebund, wo der Schluss gezogen wurde: „Dass derartige Positionen und Forderungen weder das Verhandlungsklima noch die Reformfreudigkeit der Finanzausgleichspartner verbessern, liegt auf der Hand.“ Stimmt. Leider.