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Im österreichischen Gesundheitssystem ist ein großer Umbauprozess im Gange. Selbst wenn noch niemand zu skizzieren vermag, wie genau das System in zehn Jahren aussehen wird, bröckeln auch institutionalisierte Einfluss-Säulen wie die Österreichische Ärztekammer unter dem enormen Druck des Faktischen.
Von Alexandra Keller
Diese geplante Entmachtung entfesselt, was geplante Entmachtungen immer entfesseln. Empörung, Entsetzen, Widerspruch, Gegenwehr, Protest und Kampf. Gesundheitsminister Johannes Rauch hat angekündigt, die Österreichische Ärztekammer (ÖÄK) von der großen Tafelrunde, an der essenzielle Entscheidungen für das österreichische Gesundheitssystem getroffen werden, zu verdammen. Konkret sollen die Mitspracherechte der Vertretung des heimischen Medizinerstandes bei Leistungskatalogen, Gesamtverträgen und Stellenplänen gestutzt werden, was die Kammer en passant auch ein Stück weit ihres Daseinszweckes beraubt.
Angesichts dessen wundert es kaum, dass die eh schon arg geschüttelte, von internen Hahnenkämpfen geschwächte, wenngleich milliardenschwere Institution flugs ein paar Millionen Euro für Kampfmaßnahmen bereit stellte, um ihrerseits Druck auszuüben. Dazu hielt der im September 2023 erst mit lautstarken Rücktrittsaufforderungen konfrontierte ÖÄK-Präsident Johannes Steinhart fest: „Es sind entscheidende Wochen für die medizinische Versorgung ganzer Generationen in Österreich lebender Menschen.“ Klingt, als würde die Ärztekammer zur Rettung der Österreicher auf die Straße gehen. Klingt, als wäre nur sie es, die die medizinische Versorgung der Menschen garantieren kann. Klingt recht überzogen, wenn der schwindsüchtige Zustand des Systems betrachtet wird, an dessen Hebeln die Ärztekammer seit jeher sitzt und zu dessen Reformresistenz sie stets das Ihre beigetragen hat.
Kleinster gemeinsamer Nenner. Dass den Ärztekammer-Vertretern von Minister Rauch vorgeworfen wird, mehr an Macht und Pfründen als am Wohl der Patienten interessiert zu sein, scheint zwar nicht wirklich weit hergeholt, doch geben Vorwurf und Konsequenz der aktuellen Auseinandersetzung auch jenseits des offenen Konfliktes eine besonders spannende Note. Zwischen den Worten des Ministers klingt nämlich eine kleine Götterdämmerung mit, die neben den Berufsvertretungen auch andere gewichtige Figuren auf dem komplexen Schachbrett des Gesundheitssystems ins Wanken bringen könnte. Der Wunsch, das starre System zu zerschlagen, um es neu und zukunftsfit aufzusetzen, wurde immer mal wieder geäußert. Kein Wunder, scheiterten die großen Reformsprünge der Jahre 2005, 2008 oder 2013 doch letztlich auch daran, dass sich die Einflussreichen nicht die Suppe versalzen lassen wollten und bestätigten ohne Zurückhaltung das Sprichwort von den vielen Köchen, die den Brei verderben. Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversicherungen, Ärztekammern, Apothekerkammern – alle sind dabei und ziehen an ihrem, nicht aber an einem Strang. „Das größte Problem im österreichischen Gesundheitswesen ist die hohe Zahl sogenannter Veto-Player. In der politischen Ökonomie versteht man darunter, dass Stakeholder auf die Entscheidungen derart Einfluss nehmen können, dass sie im Extremfall Änderungen verhindern können“, erklärt Thomas Czypionka, Direktor des Instituts für Höhere Studien (IHS) und Leiter der Forschungsgruppe Health Economics und Health Policy gegenüber public, warum sich Österreich in puncto Gesundheitsversorgung immer mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zufrieden geben muss. Das Hohelied des österreichischen Föderalismus ist auf vielen Ebenen bestens einstudiert, hat in diesem Politik-Bereich jedoch arg gesundheitsschädliche Untertöne. Sind sie es, die Minister Rauch nun abschaffen will? Ist die Entmachtung der Ärztekammer erst der Anfang? Werden auch die anderen Spieler auf dem Schachbrett in ihre Schranken gezwungen?
Gut möglich, dass die jüngsten, spannend wie ein Krimi zu lesenden Ärztekammer-Enthüllungen der Investigativ-Journalisten von DOSSIER nicht nur in der ÖÄK ein Kammerflimmern auslösten, sondern auch den Weg zu einem Befreiungsschlag ebneten, der im vertrakten österreichischen Polit-System seinesgleichen sucht. Nicht wenige Zeichen aus dem Gesundheitsministerium, wo auch im Zusammenhang mit den vor dem Abschluss stehenden Verhandlungen zum Finanzausgleich in diese Richtung gearbeitet wird, stehen für die Veto-Player jedenfalls auf Sturm.
Mittel zielgerichtet einsetzen. „Für all die Zukunftsthemen braucht es eine enge Zusammenarbeit aller Stakeholder im Gesundheitswesen unter der Prämisse Partikularinteressen zurückzustellen, um gemeinsam den niederschwelligen Zugang zur Versorgung sicherzustellen und das solidarisch finanzierte öffentliche Gesundheitssystem auszubauen“, stellt Karin Eglau klar. Eglau ist Mitglied der Geschäftsleitung der Gesundheit Österreich GmbH und hat Ende 2022 die Geschäftsbereichsleitung des Bundesinstituts für Qualität im Gesundheitswesen (BIQG) übernommen. Die Ärztin kennt die praktische Seite des Systems, ist Expertin auch in Fragen der Steuerungsinstrumente oder der Qualitätssicherung und weiß, welche Stellschrauben unbedingt bewegt werden müssen, um es neu aufzustellen. „Die seit 2013 laufende Gesundheitsreform ‚Zielsteuerung-Gesundheit‘ verfolgt neben der Dämpfung der Ausgabensteigerungen vor allem die Steigerung der Effizienz. Die Mittel im System sollen zielgerichtet eingesetzt werden. Dazu wurden eine Reihe von Maßnahmen formuliert, wobei im Bereich der Versorgung vor allem der ambulante Bereich gestärkt und vollstationäre Aufenthalte reduziert werden sollen“, macht sie auf den Prozess aufmerksam, der seit 10 Jahren läuft und in dem von ihr angesprochenen ambulanten Bereich mit Hilfe des LKF-Systems Effizienzsteigerungen erzielt wurden.
Regionalstrukturpläne. Das zielorientierte Jonglieren mit den Geldströmen kann also funktionieren und der sogenannte Österreichische Strukturplan Gesundheit (ÖSG) ist das übergeordnete Instrument dafür – beziehungsweise ist er seit 2013 integraler Bestandteil der Zielsteuerung Gesundheit. Dieser Strukturplan wird durch Regionalstrukturpläne in den Ländern umgesetzt, die über ihre neun Landesgesundheitsfonds 110 der 268 österreichischen Krankenanstalten als Fondskrankenanstalten finanzieren und damit für die Versorgung von rund 87 Prozent der stationären Patienten verantwortlich sind. So weit, so kompliziert, und auch die Regionalstrukturpläne haben ihre Einfluss-Haken. Mit ihnen werden beispielsweise die Posten im System definiert – eine Schlüsselfunktion nicht erst, seit es so schwer geworden ist, die Stellen zu besetzen. Bei diesen Stellen hat die Ärztekammer ein gewichtiges Wörtchen mitzureden. Als die neue Planung der Gesundheitsversorgung beschlossen wurde, hatte der Gesetzgeber noch nicht die Kraft, die Standesvertretung davon auszuschließen. Zu stark war der Einfluss der medizinischen Lobbymeister, zu weich die Knie der politisch Verantwortlichen.
Vor dem Hintergrund darf der aktuelle Vorstoß Gesundheitsminister Rauchs als wagemutig bezeichnet werden und die Reaktion der ÖÄK, die ihn als „Totengräber des solidarischen Gesundheitssystems“ bezeichnet, als populistisches Zeichen eines Überlebenskampfes.
Richtung des Gesundheitssystems. Er wirkt wie ein Stellvertreterkampf auf dem Parkett der österreichischen Sozialpartnerschaft, ist ziemlich prickelnd zu beobachten und die Angst der Einflussgewohnten hat gute Gründe. Dass Johannes Rauch (64) sich keiner Wahl mehr stellen will, macht ihn frei und brandgefährlich für die Verteidiger des Status quo. Zittern dürfen die, weil Rauch im Angesicht seiner spätestens im Herbst 2024 endenden Regierungszeit einen straffen Takt vorgibt und nicht nur der Koalitionspartner ÖVP seine Reformpläne unterstützt, sondern auch Andreas Huss, der Obmann der Gesundheitskasse ÖGK, die nebst anderem für die Schaffung von Kassenarztstellen und die Verhandlung der Arzthonorare zuständig ist.
Seitdem Huss im Amt ist, macht er klar, in welche Richtung er das Gesundheitssystem gerne gesteuert sehen würde. Effiziente Ambulanzen und der Ausbau des niedergelassenen Bereiches sind seine Leuchttürme, wobei der Gewerkschafter wenig übrig hat für den Götterstatus mancher Mediziner und schon gar nicht für deren Einfluss auf grundlegende Strukturentscheidungen, wie etwa die Errichtung von Primärversorgungszentren. „Wir sehen, dass die Menschen oft lange und schlecht begleitet durch das System irren und so wertvolle Zeit verlieren, bis sie zu einer Diagnose kommen. Wir sehen weiters, dass viele junge Menschen keinen Hausarzt mehr haben. Das ist fatal, weil niemand mehr den Menschen als Ganzes mit seinem sozioökonomischen Umfeld kennt“, sagt er gegenüber public und hält weiter fest: „Daher sage ich immer, die Hausarztmedizin ist die Königsdisziplin in der Versorgung und muss wieder eine zentrale Rolle bekommen. Aber auch die Gesundheitshotline 1450 kann und wird in Zukunft Teil dieses Navigationssystems sein. Und dass wir in der Gesundheitskompetenz und der Gesundheitsförderung ebenfalls Schlusslicht sind, ist bekannt. Hier mehr zu investieren, wird uns in Zukunft in der Reparaturmedizin viel Geld und den Menschen viel Leid ersparen können.“
Geldflüsse optimieren. Rund 500 zusätzliche Kassenstellen und die Attraktivierung der rund 300 derzeit nicht besetzten Stellen durch einen öffentlich finanzierten einheitlichen ärztlichen Leistungskatalog sowie ein einheitlicher Gesamtvertrag mit neuen Honorierungsmodellen stehen genauso auf Huss’ To-do-Liste wie eine Erhöhung der Medizinstudienplätze-Zahl, „mit einem Vorteil für jene, die sich verpflichten, nach der Ausbildung – Vorschlag 10 Jahre – im öffentlichen Spital oder der Kassenpraxis zu arbeiten. Denn wenn wir Steuerzahler 400.000 bis 600.000 Euro für einen fertigen Mediziner bezahlen, sollten wir auch das Recht haben, von diesem für eine gewisse Zeit behandelt zu werden.“
Die Ideen sind nicht neu, neu ist aber, dass ihre Umsetzung durch den Befreiungsschlag im Kompetenzendschungel plötzlich möglich geworden scheint. „Der Föderalismus ist gerade in diesem Bereich ein Kostentreiber. Nur wenn die Finanzierung aus einem Topf oder als Zwischenschritt aus zwei Töpfen erfolgt – niedergelassene Ärzte und Ambulanzen aus einem Topf, stationär aus einem eigenen Topf als Übergangslösung – können die Geldflüsse optimiert werden. Dazu bräuchte es bundesweite Planungen und transparente Kosten für die erbrachten Leistungen. Die verschiedenen Trägerorganisationen müssen endlich ihre (ideologischen) Scheuklappen ablegen und Entscheidungen so treffen, dass sie dem gesamten System unterm Strich nutzen“, befeuert Hans Jörg Schelling, Präsident des Praevenire Gesundheitsforums, diese Stoßrichtung. Dass die Lösung der Finanzierungsfragen an erster Stelle steht, ist klar. Laut Agenda Austria galoppieren die staatlichen Gesundheitsausgaben der Inflation (26,4 Prozent) davon und sind – pro Kopf gemessen – seit 2012 um fast 60 Prozent auf über 4.600 Euro gestiegen. Eine weitere Zahl macht den Verantwortlichen zusätzlich Beine.
Einer Umfrage der Spectra Marktforschung Linz zufolge bewerten 42 Prozent der Österreicher das Gesundheitssystem aktuell als mittelmäßig bis schlecht. Die Folgen der Versäumnisse sind längst „im Volk“ angekommen und werden dort auch schmerzhaft wahrgenommen. Vielleicht steckt in der kleinen Götterdämmerung, die Gesundheitsminister Rauch eingeleitet hat, eine Chance, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Vielleicht.