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Hinter der Tiroler Agrargemeinschafts-Causa verbirgt sich das wohl größte Eigentumsdelikt in der Geschichte der Republik Österreich. Von Alexandra Keller
Über 3.000 Quadratkilometer Grund und Boden wurden den betroffenen Tiroler Gemeinden ab den 1950er Jahren ohne gesetzliche Grundlage genommen und einer Handvoll Bauern übertragen. Trotzdem die düsteren Vorgänge im Tiroler Landhaus längst als offenkundige Verfassungswidrigkeit erkannt wurden, können die Gemeinden nach wie vor nicht frei über ihr Eigentum verfügen. Die Rückübertragung wäre durch ein einfaches Landesgesetz möglich. Das nennt auch der neu formierte Tiroler Gemeindeverband als Ziel. Trotzdem hat er den einzigen Zugang zu allen für die Gemeinden relevanten Daten und Unterlagen gesperrt. Und torpediert damit seinen ureigensten Daseinszweck. Wem das nützt, ist nicht schwer zu beantworten. Die Gemeinden sind’s – wieder – nicht.
Am 22. November 2023 hat der Tiroler Gemeindeverband ein Zeichen gesetzt. Es zu interpretieren, bleibt nicht viel Spielraum. Ein Zeichen der Stärke ist es nicht. Dass die Interessensvertretung der Tiroler Kommunen, die im vergangenen Jahr aufgrund ihrer in die Pleite geschlitterten Dienstleistungsgruppe GemNova bedrohlich ins Wanken geraten war, an ihrer Neuausrichtung feilen muss, scheint klar. Millionenverluste wollen ausgeglichen und hohe Wogen geglättet werden. Nach all den explodierten Emotionen mit all dem zerbrochenen Porzellan ist das keine leichte Aufgabe. Nicht zu rütteln ist aber am
§ 2 der Satzung des Tiroler Gemeindeverbandes (TGV), der als Zweck definiert, „die Interessen seiner Mitglieder zu vertreten“. Das ist der Daseinszweck jedes österreichischen Gemeindeverbandes oder Gemeindebundes. Und ausgerechnet den hat die seit September 2023 neu formierte TGV-Spitze mit einer ihrer ersten Handlungen torpediert.
Datenzugang entfernt. Seit 22. November 2023 ist es interessierten Gemeindevertretern und Bürgern nicht mehr möglich, jene Akten und Urkunden auf der Homepage des Tiroler Gemeindeverbandes einzusehen, die Aufschluss über die wahren Ausmaße und Hintergründe der sogenannten „Gemeinderegulierungen“ geben. Damit wurde der einzige Zugang zu dem Datenschatz gesperrt, der etwa auf Basis von historischen und aktuellen Grundbuchsauszügen nachvollziehbar machte, welche Gemeinde in welchem Ausmaß durch ebendiese verfassungswidrigen Gemeindegutsregulierungen betroffen war beziehungsweise ist. Gemeindegutsregulierung. Hinter dieser so korrekt amtlich klingenden Bezeichnung versteckt sich das wohl größte Eigentumsdelikt in der Geschichte der Republik Österreich. Schon lange steht fest, dass das Land Tirol und seine Agrarbeamten verfassungswidrig gehandelt haben, als sie ab den 1950er Jahren das Grundvermögen zahlreicher Tiroler Gemeinden auf Basis hanebüchener Bescheide in die Hände der ortsansässigen Bauern verschoben. Der österreichische Verfassungsgerichtshof bezeichnete die Vorgänge sogar als „offenkundig verfassungswidrig“, was in den Raum stellt, dass den Handelnden die Rechtswidrigkeit bewusst gewesen sein muss. Auf über 3.000 Quadratkilometern Grund und Boden und Wald, die zuvor ohne jeden rechtlichen Zweifel den Gemeinden gehörten, herrschten in den von den Regulierungen betroffenen Orten die Bauern dieser Gemeinden, die für den rechtswidrigen Rechtsakt in sogenannten Gemeindeguts-Agrargemeinschaften vereint wurden.
Geld und Einfluss. Diese Agrargemeinschaften bildeten fortan demokratisch nicht legitimierte, aber umso mächtigere Parallelregierungen zu den Gemeinderäten. Sie bestimmten nicht nur die kommunale Bodenpolitik, sondern häuften mit den Grundstücksgeschäften über die Jahrzehnte Gewinne in heute nicht mehr zu beziffernder Euro-Milliarden-Höhe an. Diese Gewinne, die den Gemeinden für ihre Uraufgaben genauso fehlten wie die Gemeindegrundstücke selbst, verteilten die Agrargemeinschaften teils großzügig unter den Mitgliedern. Obwohl diese Mitglieder zunehmend keine echten beziehungsweise praktizierenden Bauern mehr waren und allein die Familienzugehörigkeit zu derart arbeitslosen Einkommen oder günstigsten Grundstücken verhelfen konnte, durchzog das rechtlose Konstrukt das ganze Land und festigte die unverhältnismäßig starke bäuerliche Machtbasis in Tirol, die nur im Wissen um die Tragweite der verfassungswidrigen Enteignungen erklärbar scheint. Zu den Motiven hinter den Gemeinde-Enteignungen besteht kein Zweifel. So heißt es beispielsweise im Bescheid, mit dem die Außerferner Gemeinde Bichlbach im Jahr 1951 ihr Grundeigentum an 26 Bauern verlor: „Die vorläufige Regelung der Verwaltung war vorzunehmen, da die Berechtigten mit Grund befürchten, durch die fortschreitende Verschiebung der Bevölkerungsschichtung zu ungunsten des Bauernstandes zukünftig nicht mehr in der Lage zu sein, auf die Verwaltung der Gemeinde hinreichend Einfluss zu nehmen.“
Neues Regime implementiert. Treibende Kraft hinter den Regulierungen war der langjährige Tiroler Landeshauptmann Eduard Wallnöfer, dem der Satz „die ÖVP ist das Klavier, auf dem der Bauernbund spielt“, zugeschrieben wird. Dass sich dieser Spruch nicht zum Augenzwinkern oder Schenkelklopfen eignet, zeigt die aktuelle Situation in den betroffenen Gemeinden, die aller höchstgerichtlichen Erkenntnisse und allem Wissens um die Verfassungswidrigkeiten zum Trotz nach wie vor nicht frei über ihr Grundeigentum verfügen können. Heinrich Kienberger, ehemals Vorstand der Abteilung Verfassungsdienst und Gruppe Präsidium im Amt der Tiroler Landesregierung und ehemaliges Mitglied des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, hält in seinem 2018 erschienenen Buch „Das Gemeindegut als Verfassungsproblem“ zur Reaktion des Landes Tirol fest: „Im Ergebnis wird die Rechtsansicht vertreten, dass der Landesgesetzgeber zwar die Rechtsauffassung des VfGH zur Geltung gebracht, damit aber noch nicht eine in jeder Hinsicht verfassungskonforme Rechtslage hergestellt hat. Dazu wäre es nötig, auch das formale Eigentum am Gemeindegut wiederum von den Agrargemeinschaften an die Gemeinden zurückzuführen.“
Statt diese einfache Lösung zu wählen, mit der die Gemeinden zwar nicht für all die entgangenen Gewinne und Entwicklungsmöglichkeiten entschädigt würden, wohl aber über ihr Eigentum verfügen könnten, entschied sich das Land für einen anderen Weg. Einen, bei dem die Einfluss-Verhältnisse auf dem Gemeindegut letztlich kaum verändert wurden. Mit ungeheurem und damit auch ungeheuer teurem Verwaltungsaufwand ist auf Basis des novellierten Tiroler Flurverfassungslandesgesetzes (TFLG) auf den Gemeindegrundstücken ein neues Regime implementiert worden, das die Gemeinden weiterhin am Gängelband der nach wie vor bestehenden Agrargemeinschaften hält. Allein die Einführung des sogenannten Substanzverwalters, der zwischen den Agrargemeinschaften und den Gemeinden steht, deren Rechte er oder sie wahren soll, öffnet gemeinde-
internen Problemen Tür und Tor. Der Spagat zwischen den künstlich aufrecht erhaltenen gegensätzlichen Interessen ist fast nicht zu schaffen, Befangenheiten unausweichlich. Und der fast gänzlich verschwundenen öffentlichen Aufmerksamkeit ist zu verdanken, dass nur tröpfchenweise bekannt wird, mit welchen Auswüchsen die Gemeinden zu kämpfen haben.
Gemeinden dem Steuerzahler verpflichtet. Als eine der wenigen Auseinandersetzungen hatte es zwischen 2019 und 2022 jene zwischen der Agrargemeinschaft Ochsengarten und der Gemeinde Haiming in die auffallend still gewordenen Tiroler Medien und den nicht minder still gewordenen Tiroler Landtag geschafft. Mit dem Vorwurf, dass die Haiminger Mehrheit zugunsten der 22 Mitglieder umfassenden Agrargemeinschaft auf fragwürdige Weise zur Kasse gebeten wurde. Es als seltsam zu bezeichnen, dass die Gemeinden nicht direkt von den Einnahmen aus der Bewirtschaftung ihrer Grundstücke profitieren, sondern aufgrund der gefestigten Position der Agrargemeinschaften sogar mit Mehrkosten konfrontiert sind, greift zu kurz. Die Liste der Gemeinden, in denen genau das passiert, ist aber lang. „Ich bin den Haiminger Steuerzahlern verpflichtet“, waren Worte, mit denen die Haiminger Bürgermeisterin Michaela Öfner in dem Zusammenhang zitiert worden war. In ihrer Rechtschaffenheit und im Bemühen darum, in wahrlich ungemütlichen Budgetzeiten das Beste für die Gemeinde zu tun, stehen die Bürgermeister jedoch allein da.
Das Konfliktpotenzial ist enorm, die Perfidie des neuen Konstruktes immer wieder erstaunlich und die Tatsache, dass die Agrargemeinschaften heute mächtiger scheinen denn je, spricht Bände.
Enteignung war politisch gewollt. Dass die Rückübertragung des Gemeindeeigentums nicht passiert ist, deutet darauf hin, dass der Geist, der vor über 70 Jahren zur Enteignung der Gemeinden führte, weiterhin durch das Tiroler Landhaus schwebt, wo Landeshauptmann Wallnöfer beispielsweise zu Beginn des Jahres 1969 erfahren hatte, dass sich die Gemeinde Ainet in Osttirol respektive deren Bürgermeister Alois Girstmair nicht wohl dabei fühlten, den Bauern grundlos den Bärenanteil des Gemeindebesitzes zu übergeben. Am 14. März 1969 verfasste Wallnöfer deswegen einen Brief an Bürgermeister Girstmair, in dem der Landeshauptmann schrieb: „Die Notwendigkeit (zur Regulierung des Gemeindegutes – Anm.) hat sich in den meisten Fällen dadurch ergeben, dass durch die allgemeine Strukturumwandlung im Lande, die in Nordtirol noch viel weiter gegangen ist, als sie in Osttirol bis jetzt erfolgte, das bäuerliche Element in den Gemeinden zurückging und die Gemeindeguts-Nutzungsberechtigten in den Gemeinden durchwegs eine Minderheit bilden. Um hierüber einen Konfliktstoff aus der Gemeindestube zu entfernen, war man auch von politischer Seite an diesen Regulierungen interessiert.“
Im Jahr 2005, als die Regulierungen sukzessive zum landesweiten Konfliktstoff avancierten, hatte der langjährige Tiroler Bauernbundobmann Anton Steixner festgestellt: „Die Übertragung des Eigentums von den Gemeinden auf die Agrargemeinschaften war politisch gewollt.“ Tja, der Innsbrucker Bürgermeister Georg Willi bezeichnete die Vermögensverschiebung trotzdem als „größten Kriminalfall in der Geschichte Tirols“, der ehemalige Landeshauptmann-Stellvertreter Hannes Gschwentner nannte sie schlicht „Diebstahl“ und ein O-Ton aus der Zeit der Gemeindegutsregulierungen zeigt auf, dass wache Geister den Kriminalfall schon früh erkennen konnten.
So hatte Erwin Aloys, langjähriger Bürgermeister der Gemeinde Ischgl, in einem Interview festgehalten: „Zwischen 1968 und 1974 war durch ein sogenanntes Regulierungsverfahren der gesamte Grundbesitz der Gemeinde Ischgl, das waren 23 Millionen Quadratmeter, sang- und klanglos an die Agrargemeinschaft übertragen worden. 1974, als ich Bürgermeister wurde, hat die Gemeinde absolut nichts mehr besessen. Null, nicht einmal mehr eine Straße. Sogar die Bauten, wie Schwimmbad oder Musikpavillon, die von Gemeinde und Fremdenverkehrsverband finanziert und gebaut worden waren, sind ebenfalls mit dem Grund und Boden, auf dem sie standen, an die Agrargemeinschaft gefallen. […] Nicht die Ischgler Bürger, sondern die Mitglieder der Agrargemeinschaft, rund zehn Prozent der Bevölkerung, waren die Besitzer unseres Dorfes geworden. Ein ungeheuerlicher Vorgang in einem Rechtsstaat im 20. Jahrhundert.“
Nicht alle wurden enteignet. Ein paar Kilometer von Ischgl entfernt liegt Galtür, wo im Februar 1976 darüber diskutiert wurde, ob ein Gemeindeguts-Regulierungsverfahren eingeleitet werden soll – oder eben nicht. Die Gemeinderäte sprachen sich dagegen aus, wohl weil der damalige Landesamtsdirektor Rudolf Kathrein – ein Galtürer – die Politiker seiner Heimatgemeinde vor den Folgen der Regulierung gewarnt hatte. Darum konnte der amtierende Tiroler Landeshauptmann Anton Mattle in seiner früheren Funktion als Bürgermeister von Galtür ohne Agrarmacht im Nacken agieren. Karl-Josef Schubert, der neue Präsident des Tiroler Gemeindeverbandes, hatte auch dieses Glück. In der Gemeinde Vomp, wo Schubert Bürgermeister ist, ist kein Gemeindegut reguliert worden und es wurde dort auch kein Gemeindeeigentum an eine Agrargemeinschaft übertragen.
„Ene mene muh und raus bist du.“ Dass nicht jede Tiroler Gemeinde auf offenkundig verfassungswidrige Weise enteignet wurde, weist stark auf das dünne rechtliche Eis hin, auf dem sich die treibenden Kräfte bewegten. Wie weit die Väter der Verfassungswidrigkeit dabei zu gehen bereit waren und welche Taktik sie dabei angewendet haben, wird im Buch „Die Täuschung Tirols“ beschrieben, das demnächst im Wiener Ariadne-Verlag erscheinen wird (lesen Sie dazu den Beitrag auf Seite 14). Autor Ulrich Stern zeigt darin auf, dass die gesamten Rechtskonstrukte, welche die Tiroler Landesregierung und ihre Agrarbeamten den Gemeindegutsübertragungen zugrundelegten, nicht mehr waren als „Potemkinsche Dörfer“ – zwar kunstvoll kreierte und doch haltlose Vorspielungen falscher Tatsachen. Im Klappentext des Buches heißt es: „Mit agrarischer Rechts-Hybris stellte die Tiroler Landesregierung ein Scheinrecht über die Rechtsgrundsätze der Grundbuchsanlegung in der k. u. k.
Monarchie, über die Gesetzgebung des Reichsrates und des Tiroler Landtages, über die k. u. k. Justiz, die das fundamentale Erneuerungsvorhaben nach der Vollzugsvorschrift der Ministerien für Justiz, Finanzen und Landwirtschaft mustergültig ausführte, wie auch über Recht und Verfassung der Republik.“ Da wartet eine erschütternde Lektüre auf die Tiroler Bürgermeister und all jene, die hinter die agrarische Illusion blicken wollen, von der sich sogar der Verwaltungsgerichtshof irreleiten ließ.
Die Datensammlung. Ulrich Stern war es auch gewesen, der im Auftrag des Tiroler Gemeindeverbandes all die relevanten Daten, Akten sowie Grundbuchauszüge recherchierte und in digitale Form brachte, die dann auf der Homepage des Tiroler Gemeindeverbandes per simplem Mausklick offenbarten, ob und wenn ja, in welchem Ausmaß die einzelnen Tiroler Gemeinden vom „Diebstahl“ betroffen waren beziehungsweise sind. Für die Gemeinden war das ein essenzielles Instrument zur Wahrheitsfindung. „Es kann nicht sein, dass der Mantel des Schweigens über diesen Jahrhundert-skandal gestülpt wird und der Tiroler Gemeindeverband – der eigentlich die Gemeindeinteressen zu vertreten hätte – dazu den Vorschub leistet.“ Mit diesen Worten hatte der ehemalige Klubdirektor der Tiroler SPÖ im Tiroler Landtag, Günther Hye, am 23. November 2023 die Tiroler Medien darüber informiert, dass der Zugang zu den Daten auf der Homepage des Tiroler Gemeindeverbandes Tags zuvor entfernt worden war. Die mediale Null-Reaktion zeigt, dass der Jahrhundertskandal der offenkundig verfassungswidrigen Eigentumsübertragungen offenkundig nicht mehr als berichtenswert erachtet wird. Der Mantel des Schweigens ist blickdicht.
Von public dazu befragt, warum der Tiroler Gemeindeverband den einzigen Zugang zu den Daten gesperrt hat, sagt Gemeindeverbands-Präsident Karl-Josef Schubert: „Für die nicht mehr Zurverfügungstellung der Daten im Zusammenhang mit der in Rede stehenden Thematik auf der Homepage sind […] ausschließlich wirtschaftliche Überlegungen und die damit zusammenhängenden notwendigen Einsparungsmaßnahmen maßgeblich.“ Auf Nachfrage hält er fest, dass es sich um einen vierstelligen Eurobetrag pro Jahr handelt und dem Vernehmen nach musste der Tiroler Gemeindeverband knapp 2.400 Euro jährlich dafür zahlen, die Daten zur Verfügung zu stellen. 200 Euro pro Monat!
Der Verein „Gemeindeland in Gemeindehand“, der die Homepage www.agrarpapers.tirol betreibt und so etwas wie das letzte Bollwerk im Kampf um Gerechtigkeit für die Gemeinden und die Rückübertragung ist, arbeitet daran, die Daten wieder zur Verfügung zu stellen. Sie sind nicht verloren, doch mit der Sperre des Zugangs hat der Tiroler Gemeindeverband ein Zeichen gesetzt. Es zu interpretieren, bleibt nicht viel Spielraum. Ein Zeichen der Stärke ist es nicht.