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Qualität und Quantität des Kinderbetreuungsangebotes sind nicht nur für den Bildungsweg der Kinder oder den Lebensweg der Eltern, sondern auch für die Volkswirtschaft und das BIP entscheidend. Diese epochale Zukunftslast ist für die österreichischen Kommunen kaum zu stemmen. Personalnot und leere Kassen stehen Ausbauzielen und Qualitäts-offensiven fast schon feindlich gegenüber. „Die Gemeinden bemühen sich sehr“, weiß KDZ-Expertin Karoline Mitterer und lässt ein dramatisches ABER folgen: „Ich habe die Befürchtung, dass das Angebot zurückgefahren wird.“
Von Alexandra Keller
Für diesen Seiltanz erhielt Susanne Raab wenig Applaus. Raab ist österreichische Bundesministerin für Frauen, Familie, Integration und Medien im Bundeskanzleramt. Als Mitglied der türkisen ÖVP beherrscht sie durchaus den dort typischen Polit-Sprech, doch lassen sich eben nicht alle schlechten Nachrichten schön biegen. Vor allem, wenn in diesen Nachrichten ein großer Brocken des Partei-Selbstverständnisses steckt. In puncto Frauen hat dieses Selbstverständnis bei der ÖVP so manchen feindlichen Haken. Die Frauenministerin schärfte diesen etwa, als sie im Herbst 2023 in Windeseile auszog, um die herablassenden Aussagen von Bundeskanzler Karl Nehammer über Frauen in Teilzeit und armutsbetroffene Familien als nachvollziehbar zu rechtfertigten. Wie bei recht vielen Skandalen in der jüngeren, unter einem eklatanten Mangel an Sachpolitik leidenden Republik, war die Halbwertszeit auch des „Burgergate“ erstaunlich kurz, doch war im Fastfood-Rahmen das Dilemma der Partei und ihrer für Frauen und Familien zuständigen Ministerin deutlich geworden. Das katholisch-konservative Familien- und Frauenbild will partout nicht zu den immer akuter werdenden wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Herausforderungen passen. Ende April 2024 wurde dieser Eindruck gleichsam schwarz auf weiß deutlich, als Raab den Monitoring-Bericht über die elementare Bildung 2022/23 präsentierte. Finanziert mit Mitteln aus ihrem Ministerium hatte die Statistik Austria den Zustand der Kinderbetreuung in Österreich unter die Lupe genommen, in den „Kinderbetreuungsmonitor“ gegossen und die Ergebnisse waren es, die Raab zum Tanz auf dem Seil aufforderten.
„Bildung beginnt bereits in den elementaren Bildungseinrichtungen und ermöglicht Kindern im Alter von null bis fünf Jahren kognitive und soziale Entwicklung in einem organisierten Rahmen. Zudem ist ein bedarfsgerechtes Angebot an elementaren Bildungseinrichtungen eine zentrale Voraussetzung für die Erwerbstätigkeit der Eltern. Dementsprechend und im Einklang mit dem aktuellen Arbeitskräftemangel gewinnt die elementare Bildung in Österreich zunehmend an Bedeutung“, heißt es im Kinderbetreuungsmonitor gleich eingangs. Studien der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) zufolge haben Kinder, die unter sechs Jahren von qualifizierten Elementarpädagogen adäquat betreut werden, signifikant bessere Chancen im späteren (Berufs-)Leben. Für Familien – speziell für Frauen – ist eine gut ausgebaute Infrastruktur nicht minder lebensentscheidend, hängt der Anteil der Frauen am Arbeitsmarkt und die Stunden, in denen sie ihre Fähigkeiten dort zur Verfügung stellen, doch ganz unmittelbar mit dem Betreuungsangebot zusammen. Die gesellschafts- und wirtschaftspolitische Bedeutung des Themas ist riesig, die faktischen Antworten vor Ort sind es aber nicht.
Der Zahlenrahmen. Laut Statistik Austria gab es im Jahr 2022 in Österreich 8.991 institutionelle Kinderbetreuungseinrichtungen, die von null- bis fünfjährigen Kindern besucht wurden. Davon sind 4.602 Kindergärten, 2.650 Kinderkrippen und Kleinkindbetreuungseinrichtungen, 1.739 altersgemischte Betreuungseinrichtungen inklusive Horte. Rund 330.000 Kinder unter sechs Jahren besuchen diese Kinderbetreuungseinrichtungen, doch steckt auch für sie und ihre Eltern der Teufel im Detail, denn von den insgesamt 8.991 Kindertagesheimen, die von Kindern im Alter von null bis fünf Jahren besucht werden, haben nur 22,5 Prozent 51 bis 52 Wochen im Jahr und somit ganzjährig geöffnet. Knapp 20 Prozent kommen auf 48 Wochen pro Jahr, über 11 Prozent auf 45 beziehungsweise 47 geöffnete Wochen. Weitere 4,8 Prozent der Einrichtungen haben 40 oder weniger Wochen offen.
Spannend sind die Bundesländer-Unterschiede. So sind in Wien mehr als die Hälfte der Kindertagesheime, die von null- bis fünfjährigen Kindern besucht werden, 51 bis 52 Wochen und damit ganzjährig geöffnet. An zweiter Stelle liegt das Bundesland Burgenland mit 33,6 Prozent der Kindertagesheime. Niederösterreich, Steiermark und Vorarlberg liegen dabei unter 5 Prozent. In Tirol haben 32,3 Prozent der Kindertagesheime weniger als 45 Wochen geöffnet, gefolgt von Kärnten mit 25,4 Prozent und Vorarlberg mit 19,2 Prozent.
Nicht minder spannend sind die Öffnungszeiten. So stellten die Statistik-Austria-Experten fest, dass im Bundesland Wien sieben von zehn Kindertagesheimen Kinderbetreuung für Kinder von null bis fünf Jahren für zehn und mehr Stunden anbieten. Dem folgt Kärnten mit 51,8 Prozent. Vorarlberg weist einen Wert von 31,8 Prozent auf, während die übrigen Bundesländer unter 30 Prozent liegen. Schlusslicht bildet hier das Bundesland Oberösterreich mit 15,1 Prozent.
Oberösterreich und Niederösterreich bilden in vielerlei Hinsicht derartige Schlusslichter. Etwa auch, wenn es darum geht, ob oder ob eben nicht die Betreuungseinrichtungen den Eltern einen Vollzeitjob ermöglichen. Dieses Qualitätsmerkmal wird mit dem Vereinbarkeitsindikator für Familie und Beruf (VIF) gemessen. Österreichweit ist nur die Hälfte der Betreuungseinrichtungen VIF-konform, wobei das Bundesländergefälle extrem ist. So besuchen 90 Prozent der dreijährigen Kindergartenkinder Wiens VIF-konforme Einrichtungen. In Niederösterreich sind es 26 Prozent und in Oberösterreich 28 Prozent.
Die Unvereinbarkeiten. Die Unvereinbarkeiten spitzen sich also vor allem in schwarz-blau regierten Bundesländern zu, was angesichts der schwarz-blauen Überschneidungen im Frauen- und Familienbild zwar nicht überrascht, Frauen- und Familienministerin Raab im Rahmen der Präsentation aber nicht zu einer Rüge der diesbezüglich Rückständigen verleitete. In Vollzeit zu arbeiten ist für Nieder- und Oberösterreichs Mütter jedenfalls noch schwerer, dabei schwankt der österreichische Durchschnitt der Mütter in Vollzeitjobs in den ersten fünf Lebensjahren eh schon zwischen mageren zehn und 16 Prozent, während zwischen 81 und 87 Prozent der Väter relativ unabhängig vom Alter der Kinder in Vollzeit arbeiten. Die Ehe oder eheähnliche Gemeinschaften in katholisch-konservativ geprägten politischen Umgebungen scheinen für Frauen zunehmend zur gefährlichsten Pensionsfalle zu werden, steigt mit der Unmöglichkeit der Vollzeitarbeit doch die Chance auf Altersarmut in bedrohlichem Maße.
Im Rahmen des Weltfrauentages erst hatte AK-Präsidentin Renate Anderl an Frauenministerin Raab appelliert, beim Ausbau der Kinderbetreuung, der Lohntransparenz und der Qualifizierungsoffensive schneller aktiv zu werden. Anderl kritisierte das Schattendasein, das die Frauenpolitik nach vielen auch erfolgreichen Kämpfen wieder führe, wies darauf hin, dass bei acht von zehn Paaren weiter ausschließlich die Mutter in Karenz gehe, die Väterbeteiligung kontinuierlich zurückgehe und Frauen nach wie vor den Großteil der unbezahlten Arbeit leisten, die Kinder erziehen und Angehörige pflegen. „Wir brauchen dringend eine Frauenpolitik, die diesen Namen verdient“, sprach Anderl Ministerin Raab ganz direkt an und meinte: „Das ist keine Hexerei und keine Raketenwissenschaft.“
Dass sich Ministerin Raab angesichts der arg tristen und einen unheimlichen volkswirtschaftlichen Rattenschwanz an Konsequenzen nach sich ziehenden Kinderbetreuungs-Zahlen mit ihren Zielen aber hauptsächlich darauf kaprizierte, den Familien „echte und ehrliche Wahlfreiheit“ geben zu wollen, wurde postwendend mit schwergewichtiger sachpolitischer Häme bedacht. Unter Federführung der SPÖ-nahen Kinderfreunde bildeten Caritas Österreich, Charlotte Bühler Institut, NeBÖ und EduCare, Betriebsräte, BÖE - Bundesverband österreichischer Elternverwalteter Kindergruppen, Diakonie Österreich, Kinder in Wien und St. Nikolausstiftung ein Bollwerk, um „Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung statt Wahlfreiheit“ zu fordern.
„Ein Kinderbetreuungsplatz ist in Österreich noch immer von einer Bundesland-Lotterie abhängig. Das muss sich endlich ändern“, kommentierte Jürgen Czernohorszky, Bundesvorsitzender der Kinderfreunde, die Ergebnisse des Kinderbildungs- und -betreuungsmonitors der Statistik Austria, den Bundesministerin Raab kurz zuvor vorgestellt hatte. Dass es mit Nieder- und Oberösterreich im Jahr 2024 gleich zwei Bundesländer gibt, die kaum eine realistische Chance auf Betreuungsplätze für unter zweijährige Kinder bieten, bezeichnete er als skandalös und Daniela Gruber-Pruner, Bundegeschäftsführerin der Kinderfreunde, stellte klar: „Eltern und ihre Kinder brauchen einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Kinderbildungseinrichtung. Eine sogenannte Wahlfreiheit bringt Eltern nichts, wenn es schlicht keine Plätze in der Region gibt und sie deshalb erst recht zu Bittstellern werden. Hier müssen wir die Kommunen stärker in die Pflicht nehmen.“
Die Verantwortlichen. Ja, die Kommunen. Sie sind es, bei denen all die politischen Forderungen und faktischen Notwendigkeiten im Zusammenhang mit der Kinderbetreuung aufprallen und die zwischen den Bedarfen und den Umsetzungsmöglichkeiten derzeit regelrecht zerrieben werden. Karoline Mitterer, KDZ-Expertin auch für Elementarpädagogik, kann in der aktuellen Situation der österreichischen Gemeinden nur wenig Licht erkennen. „Wir haben erstens diese Einnahme-Ausgaben-Schere, die wir überall im öffentlichen Bereich haben. Der elementarpädagogische Bereich hat von Haus aus einen größeren Zuschussbedarf, der über allgemeine Mittel abgedeckt werden muss. Dann kommt hinzu, dass in vielen Bundesländern die Gruppengrößen verkleinert werden“, beschreibt Mitterer den Rahmen, in dem die Kommunen Kinderbetreuungswunder vollbringen sollen. Allein in der Verkleinerung der Gruppengrößen, wie sie etwa in Niederösterreich, Kärnten oder der Steiermark beschlossen wurden, stecken zahlreiche Tücken. Wird die Gruppengröße von 25 auf 20 Kinder reduziert, bedeutet das, dass der Bedarf an Platz und Personal um ein Fünftel steigt. „Das sind schlagartig höhere laufende Kosten plus die Investitionskosten und das, noch ohne die Betreuungsquote zu erhöhen“, erklärt Mitterer.
In der von ihr genannten, in den entsprechenden 15a-Vereinbarungen und dem Finanzausgleichs-Gesetz (FAG) über den Zukunftsfonds geregelten Betreuungsquoten-Ziel verbirgt sich ein weiterer großer Brocken. Die Betreuungsquote insbesondere bei den Unter-3-Jährigen wurde auf 38 Prozent erhöht und dieses 38-Prozent-Ziel wurde im FAG festgehalten.
Ursprünglich war geplant, dass die Mittel des neu geschaffenen Zukunftsfonds – jene 500 Millionen Euro pro Jahr also, die seit Anfang Juni 2024 zur Verfügung gestellt werden – nur für den Ausbau der Kinderbetreuung eingesetzt werden. Dann aber stellten Länder und Gemeinden die Forderung, diese Mittel auch für den laufenden Bedarf verwenden zu können und das wurde im FAG berücksichtigt, sodass die Gemeinden, denen 250 Zukunftsfonds-Millionen jährlich zustehen, diese dafür einsetzen können. Das werden sie wohl oder übel auch müssen. „Ich gehe davon aus, dass die Gelder in der Praxis erst einmal für den laufenden Betrieb und die gesetzlich notwendigen Maßnahmen, wie die Verkleinerung der Gruppengrößen verwendet werden“, sieht KDZ-Expertin Mitterer die Mittel für den tatsächlichen Ausbau schrumpfen und meint: „Falls dann noch etwas übrigbleibt, dann kann über den Ausbau nachgedacht werden. Ich glaube aber, dass nicht viel übrigbleiben wird.“
Durch diese realistische Brille betrachtet, die das finanzielle Dilemma der Gemeinden schonungslos aufzeigt, bleibt wenig vom großen Wurf übrig, als den die Bundesregierung den Zukunftsfonds gerne verkauft. „Der Ausbau der Kinderbetreuung ist ein echter Meilenstein für mehr Wahlfreiheit und Sicherheit bei der Planung des Familienalltags. Für die Eltern ist das entscheidend, denn wenn eine Kinderbetreuung in der Nähe gegeben ist und sie auch lang genug geöffnet hat, dann können sie auch schneller wieder in den Beruf einsteigen, wenn sie das möchten“, sagte Ministerin Raab, als am 1. Juni 2024 die Zukunftsfonds-Schleusen geöffnet wurden. Angesichts der gestiegenen Personalkosten und der die Gelder verschlingenden Gesetzeskonformität muss die jubilierende Aussage Raabs zwingend in Frage gestellt werden. Und auch das Frohlocken ihres Partei- und Regierungskollegen Finanzminister Magnus Brunners könnte rasch arg gedämpft klingen. Er sagte: „Mit dem Finanzausgleich stellen wir den Gemeinden und Ländern die notwendigen Mittel zum Ausbau der kommunalen Daseinsvorsorge, insbesondere in der Kinderbetreuung, zur Verfügung. Denn vor allem mit dem Zukunftsfonds ist uns ein Paradigmenwechsel gelungen. Erstmals geht es nicht nur um die Fortführung bestehender Leistungen, sondern unser Fokus liegt auf wichtigen Reformen wie der Kinderbetreuung. Die Gelder des Finanzausgleichs sind somit an klare Ziele geknüpft.“ Ziele, die sich – wie schon erwähnt – möglicherweise im Alltagsstrudel auflösen, weil die FAG-Mittel vorne und hinten nicht reichen, um die Kinderbetreuung angemessen auszubauen.
Der Handlungsbedarf. In dem Zusammenhang hätten sich die Regierungsmitglieder durchaus Rat von ihrem Parteikollegen Harald Mahrer holen können. Mahrer ist Präsident der Wirtschaftskammer Österreich, war mal Staatssekretär, war mal Minister und hat als Unternehmer einen anderen Blick darauf, welche Bedeutung die Kinderbetreuung für den Wirtschaftsstandort Österreich hat beziehungsweise haben könnte.
Im September 2023 ließ Mahrer mit seiner Forderung nach einem „Kraftakt für mehr Kinderbetreuung in Österreich“ aufhorchen und präsentierte das WKÖ-Konzept, das drei Handlungsfelder beackert sehen will. Kernforderungen dieses 3-Stufenplans sind die Anhebung der Betreuungsquote von unter 3-Jährigen auf 45 Prozent, das Schaffen einer „echten Wahlfreiheit“ für Eltern für die Betreuung der 3- bis 6-Jährigen und die Ausweitung der Öffnungszeiten um zwei Stunden pro Tag.
Die Gesamtkosten des Ausbaus bis 2030 betragen nach WKÖ-Schätzungen 6,3 Milliarden Euro, davon 1,38 Milliarden für bauliche Investitionen, 4,1 Milliarden für Personalausgaben sowie 837 Millionen für den laufenden Betrieb. Gleichzeitig zeigt die Modellrechnung, dass sich nach Erreichen der Ziele 2030 das BIP um rund 7,013 Milliarden Euro pro Jahr erhöht.
Die Differenz zum Zukunftsfonds ist jedenfalls satt. 4,5 Milliarden Euro stecken bis 2030 in diesem Fonds. Mahrer sieht Bedarf für 1,8 Milliarden Euro mehr und seine Rechnung bekommt nicht nur wegen der im angemessenen Ausbau steckenden BIP-Erhöhung politischen „Schmackes“.
Österreich lag vergangenen Herbst mit einer Betreuungsquote von 29,9 Prozent hinter dem Barcelona-Ziel von 33 Prozent, was zu einer überproportional hohen Teilzeitquote führt. Bei Frauen insgesamt liegt diese bereits bei mehr als 50 Prozent und bei Frauen mit Kindern unter 6 Jahren sogar bei 71,6 Prozent. Auch liegt Österreich mit Ausgaben von rund 0,7 % des BIP für frühkindliche Bildung 0,2 Prozentpunkte unter dem OECD-Schnitt.
„Wir müssen endlich eine internationale Aufholjagd im Bereich der frühkindlichen Betreuung starten“, sagte Mahrer und verwies auf eine Erhebung des AMS, laut der 65.200 Frauen in Österreich angeben, dass sie ihre Arbeitszeit ausweiten würden, wenn sie mehr Kinderbetreuung hätten. Einer market-Umfrage zufolge sehen je 81 Prozent der Unternehmen sowie der Bevölkerung mehr und hochwertigere Kinderbetreuungsplätze als wichtig oder sogar sehr wichtig an.
Für Unternehmen ist das Aktivieren der weiblichen Arbeitskräfte ein heikler Zukunftsschlüssel und selbst wenn WKÖ-Präsident Mahrer ebenfalls die „echte Wahlfreiheit“ bemüßigt, geht seine Stellvertreterin, WKÖ-Vizepräsidentin Martha Schultz, schon seit Jahren einen Schritt weiter, indem sie den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Geburtstag fordert – ganzjährig, ganztägig und flächendeckend versteht sich.
Der Kooperationsbedarf. Schultz’ Heimatland Tirol ist das bislang einzige Bundesland, das den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung – ab dem zweiten Geburtstag und ab 2026 – fixiert hat. Ein „ganzjähriges, ganztägiges, qualitätsvolles und leistbares“ Angebot soll dabei sichergestellt werden und der Tiroler Landeshauptmann Anton Mattle hält diesbezüglich gegenüber public fest: „Zur Umsetzung des Rechtes auf Vermittlung eines Kinderbildungs- und Kinderbetreuungsplatzes bis Herbst 2026 wurde ein 10-Punkte-Maßnahmenplan rund um Ausbau, Finanzierung und Rahmenbedingungen für das Personal und die Erhalter ausgearbeitet. Acht der zehn Punkte sind seit Herbst 2023 bereits umgesetzt beziehungsweise in Umsetzung. Seitens des Landes werden im laufenden Jahr 160 Millionen Euro in die Kinderbildung und Kinderbetreuung investiert. Für die Einführung des Rechtes auf Kinderbildung und Kinderbetreuung stehen zudem zusätzliche 50 Millionen Euro zur Verfügung.“ Für das Prestigeprojekt muss das Land tief in die Taschen greifen, womöglich aber noch tiefer.
Im März 2024 wurden vier Tiroler Modellregionen präsentiert, in denen das in Gesetz gegossene Koalitionsziel in der Praxis getestet werden soll. Neben den peripheren Bezirken Osttirol und dem Außerfern zählen die in der Inntalfurche benachbarten Regionen Wattens und Umgebung sowie die Stadt Schwaz mit Vomp dazu. Im April 2024 mussten die Pilotregionen jedoch redimensioniert werden, hatte doch das zum Außerfern zählende Lechtal einen Rückzieher gemacht und die Landesregierung in leichte Bedrängnis gebracht.
Weil auch die Tiroler Gemeinden unter der Ausgabenschere ächzen, der zusätzliche Personalbedarf mindestens 700 Mitarbeiter beträgt und die Harmonisierung der Elternbeiträge kein leichtes Unterfangen ist, stottern die Arbeiten an der Umsetzung des Rechtsanspruches, der übrigens so definiert wird, dass Eltern zwar einen wohnortnahen Betreuungsplatz für ihre Kinder garantiert bekommen sollen, nicht aber zwangsläufig in ihrer Heimatgemeinde. „Eine Lösung für ein flächendeckendes Angebot bilden Gemeindekooperationen. Dadurch muss nicht jede Gemeinde ihre Einrichtung ganzjährig und ganztägig öffnen, sondern es soll innerhalb einer Fahrtzeit von circa 15 Minuten ein entsprechender Platz zur Verfügung gestellt werden. Bereits jetzt stellen Gemeinden dieses Angebot zur Verfügung und daher gibt es bereits eine gute Basis, auf welcher weiter aufgebaut werden kann“, erklärt LH Mattle.
Verstärkte Gemeindekooperationen sind auch aus Sicht Karoline Mitterers eine Variante, um das vor allem in finanziell engen Zeiten vielfach Unmögliche möglich zu machen. „Wir sehen, dass die Gruppengrößen sehr unterschiedlich sind. Es gibt Regionen mit weniger als zehn Kindern in einer Gruppe und dann haben wir Städte, in denen die Gruppen vollgestopft sind“, sagt sie. Durch stärkere Gemeindekooperationen könnte nicht nur effizienter agiert, sondern auch die Öffnungszeiten erweitert werden, weil die Nachfrage höher ist. Mitterer: „Da wird dann sicher über die Zumutbarkeit für die Kinder diskutiert, doch in Zeiten von Elterntaxis geht ohnehin kaum ein Kind zu Fuß zum Kindergarten.“
Kinderkrippen werden vielfach bereits auf diese kooperative Weise organisiert und könnten als Modell auch für die nächsten Betreuungsstufen dienen. „Die Gemeinden bemühen sich sehr. Es gibt viel Engagement auf der kommunalen Ebene, dass die Angebote funktionieren, aber ich sehe auch eine gewisse Ratlosigkeit“, macht Mitterer auf die Stimmung in den Gemeindestuben aufmerksam, die durch das Personalproblem nicht eine verunsichernde Schwere bekommt. Spät haben Bund und Länder damit begonnen, entsprechende Bildungspfade für Elementarpädagogen zu ebnen. Und das, obwohl längst bekannt war, dass weniger als die Hälfte der Absolventen der Bildungsanstalten für Elementarpädagogik (BAfEP) tatsächlich in den Beruf einsteigen, dessen Ruf offenkundig kein guter ist. Die Arbeiterkammer Oberösterreich hat vor einigen Jahren schon eine Studie veröffentlicht, laut der die emotionale Belastung durch große Gruppen ein Hauptgrund für Elementarpädagogen war, den Betreuungseinrichtungen den Rücken zuzukehren. Durch die Verkleinerung der Gruppen wird dieser Abschreckung und durch die Ausbildung nach der Matura und anderen Ausbildungsmodellen der Personalnot begegnet, doch wirken diese Maßnahmen erst mittelfristig.
Kurzfristig vermag die Gemengenlage aus stark geschrumpften Gemeindemitteln und der eklatanten Disharmonie in der Personalfrage die KDZ-Expertin kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen: „Ich glaube, dass die Öffnungszeiten reduziert werden, weil weder Personal noch Geld da sind. Ich habe wirklich die Befürchtung, dass das Angebot zurückgefahren wird.“
Wird es das, wird sehr geschwind mehr Geld fließen müssen, um ein gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Chaos zu verhindern. AK-Präsidentin Renate Anderl, für die kein Weg an einem Stufenplan für den Ausbau der Elementarpädagogik und einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Geburtstag vorbeiführt, hat da einen Vorschlag: „Zu finanzieren ist das nur mit einer echten Kindergartenmilliarde, also zusätzlich einer Milliarde Euro jährlich aus dem Bundesbudget.“ Dann müssten weder Gemeinden noch Kinder noch Eltern auf dem Seil tanzen.
Information
Download Monitoring-Bericht der Statistik Austria
„Statistiken zur elementaren Bildung 2022/2023“
» https://www.statistik.at/services/tools/services/publikationen/detail/1845