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Im Bann der Promille

Österreich ist ziemlich alkoholkrank. Im internationalen WHO-Vergleich liegt die Alpenrepublik in puncto Alkoholkonsum auf Rang 35, im europäischen Vergleich auf Platz sieben. Experten kritisieren den allzu legeren Umgang mit der Volksdroge massiv, die Krebs, Gewalt und bei Missbrauch auch enorme Folgekosten verursacht. Doch treffen Forderungen nach mehr Prävention, höheren Steuern und einem ernsthaft gesunden Umgang mit Alkohol auf taube Ohren.
Von Alexandra Keller

5/8erl in Ehr’n. Die Wiener Band, deren Stil als „Wiener Soul“ beschrieben wird, hat mehrfach den Amadeus-Award gewonnen – und sie ist großartig. Der 2020 veröffentlichte beziehungsweise auf der CD YEAH YEAH YEAH vertonte Song OE24 etwa, traf so stil- wie treffsicher ein gar dunkles Medien-Herz der Nation. „Wer fährt so spät durch Nacht und Wind? Der Fellner dieses Uhrenkind. Den Infoscreen hat er im Arm, er fasst ihn sich und hält ihn warm“, heißt’s da in der ersten, „Dem Volke grausts, fährt U-Bahn gschwind, es hält im Arm das ächzend’ Bild, die Endstation mit Müh und Not, in seinen Armen Heute, Oesterreich ist tot“, in der letzten Strophe. Wenn derart kunstvoll der Boulevard und die große Düsternis vertont wird, lässt sich’s leicht süchtig werden nach der Musik der fünf Achterl – und das mit der Gewissheit, dass diese Sucht zwar eine gewisse Form der schunkelnden Schwermut fördert, nicht aber die Gesundheit schädigt.

Ganz im Gegensatz zu jenem Achterl in Ehren, das ihnen als Pate diente. Das Achterl, das scheinbar niemand verwehren kann und das im Volksmund täglich genossen als g’sund gilt. Ist es nicht. Im Sommer 2024 hat wieder ein Forschungsteam – in dem Fall vom Canadian Institute for Substance Use Research an der Universität Victoria – im Rahmen einer Studie festgestellt, dass jeder einzelne Schluck Alkohol in das gefährliche Karzinogen Acetaldehyd umgewandelt wird und somit ein zumindest kleines Risiko darstellt.

2019 waren die Daten von 28 Millionen Menschen analysiert und in der Fachzeitschrift Lancet ist festgehalten worden, dass Alkohol schon ab dem ersten Tropfen ungesund ist und 2023 haben italienische Wissenschaftler eine Studie veröffentlicht, in der auch der mutmaßlich entspannende Effekt von Alkohol auf die Blutgefäße widerlegt und festgehalten wurde, dass selbst geringe Mengen eine Hypertonie, also Bluthochdruck, fördern.
Die ernüchternden wissenschaftlichen Datenlagen lassen die Bilder der herzhaft faltigen 100-Jährigen eigentlich zerbröseln, die betonen, wegen und nicht trotz des täglichen Achterls so alt geworden zu sein. Eigentlich, denn die Österreicher scheinen dieses Bild viel zu lieb gewonnen zu haben, um es durch Studien zerstören zu lassen, die ihnen nicht nur das leicht süchtige Spiegelbild, sondern auch die finsteren Folgen vor Augen halten.

370.000 Alkoholkranke. „Eine Million Österreicher zeigen ein problematisches Trinkverhalten. Sie trinken in einem Ausmaß, das eindeutig gesundheitsgefährdend ist“, weiß Claudia Kahr, Gründerin und Geschäftsführerin der Fachstelle für Suchtprävention VIVID in Graz. Rund 370.000 Österreicher – weit mehr als die Einwohnerzahl des Burgenlandes und fast so viel wie die Bevölkerung Vorarlbergs – gelten als alkoholkrank, sie können also nicht mehr auf Alkohol verzichten.

Im Schnitt trinken Österreicher ab 15 Jahren pro Jahr 12 Liter reinen Alkohol. Damit nimmt Österreich im jüngsten, im Juli 2024 veröffentlichten Statusbericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) neuerlich einen Spitzenplatz ein. Geht es um den Alkoholkonsum, liegt das Land international auf Platz 35 der 194 WHO-Mitgliedsländer und im europäischen Vergleich hat es die Alpenrepublik sogar auf Platz sieben geschafft. Gut möglich, dass auch diese Nachricht Anlass zu einem feierlichen Umtrunk ist. Denn das Bewusstsein gegenüber der massiven Problematik, die in dieser Höchstleistung steckt, ist nur in homöopathischen Dosen vorhanden.

Das Archiv der deutschsprachigen Volkslieder umfasst jedenfalls mehr als 430 Trinklieder, mit denen große wie kleine Saufgelage musikalisch angeheizt werden. Wie das Amen im Gebet werden sie bei Festen aller Arten geträllert und ihre Reime sind den Umständen wie Zuständen auf diesen Zusammenkünften bestens angepasst. „Oane geht no“ lässt sich schließlich auch singen, wenn das kleine Einmaleins längst unmöglich geworden ist.

Kulturproblem Alkohol. „Der Konsum wird oftmals als Teil der Kultur angesehen und ist im Alltag verankert. Man denke nur an das Gläschen Sekt zum Brunch oder den Sturm beim Heurigen. Dagegen wird das ‚Nein‘ zu Alkohol meist zur Gratwanderung: Wer abstinent bleibt, muss sich oft rechtfertigen. Alkoholkonsum wird als soziale Norm angesehen, von der man nicht abweichen möchte, um negative soziale oder emotionale Konsequenzen zu verhindern“, beschreibt Lisa Brunner, Obfrau der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft Suchtvorbeugung, den tief in der Gesellschaft verwurzelten Alkoholzwang.

Die Folgen dieses legeren und per se schon fast als suchtkrank zu bezeichnenden Umgangs mit Alkohol bleiben nicht nur auf die potenzielle Enthemmtheit mit all ihren Begleiterscheinungen beschränkt. Der gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Schaden ist enorm. Zwar sind partout keine aktuellen Zahlen beziehungsweise Berechnungen zu finden, doch haben sich die Ergebnisse einer IHS-Studie aus dem Jahr 2013 wohl nicht nur wegen der Inflation in den vergangenen elf Jahren kaum gebessert. Damals errechneten die IHS-Experten, dass Alkoholkrankheit Österreich jährlich 750 Millionen Euro kostet.

„Wir haben die direkten medizinischen Kosten mit 373,8 Millionen Euro oder 1,44 Prozent der Gesundheitskosten berechnet“, wurde IHS-Gesundheitsökonomen Thomas Czypionka dazu im Standard zitiert, wo es auch hieß: An direkten nichtmedizinischen Aufwendungen kamen 2011 dann 6,6 Millionen Euro an Krankengeld, acht Millionen Euro an Pflegegeld, 23,5 Millionen Euro für Invaliditätspensionen und 7,1 Millionen Euro an Witwenpensionen hinzu. Den größten Anteil aber machten die Produktivitätsausfälle durch Krankenstände et cetera aus: 441,7 Millionen Euro. Die „Gegenrechnung“ belief sich 2013 bei 119,2 Millionen Einnahmen über die Alkoholsteuer und eine Entlastung des Budgets in Höhe von 3,7 Millionen Euro – aufgrund der höheren Sterblichkeit von Alkoholkranken.

Prävention statt Reparatur. Täglich sterben laut WHO allein in der Europaregion rund 2.200 Menschen an alkoholbedingten Ursachen und trotzdem sind die Länder der WHO-Region Europa offenkundig weit davon entfernt, das Ziel jener 10-Prozent-Verringerung des Konsums bis 2025 zu erreichen, das 2010 gesteckt worden war. Vor all diesen alarmierenden Hintergründen legt die Weltgesundheitsorganisation politische Maßnahmen gegen den hohen Alkoholkonsum nahe.

Suchtexpertin Lisa Brunner lenkt in dem Zusammenhang den Blick auf die mangelhafte Datenlage aus der ambulanten Alkoholbehandlung, die problematische Preisgestaltung mit all den Flat-Rate-Partys oder All-inclusive-Angeboten, die Immer-und-überall-Verfügbarkeit oder die großen Unterschiede in der Einhaltung beziehungsweise Handhabung des Jugendschutzes – und sagt: „Um österreichweit eine nachhaltige, verantwortungsvolle Festkultur und Gastronomie zu fördern, wäre auch die verpflichtende Umsetzung von ‚Responsible-Service-of-Alcohol‘-Maßnahmen, wie dies in vielen anderen Ländern bereits Standard ist, und die Anwendung von ‚Safer-Night-Live‘-Konzepten auch eine sinnvolle Maßnahme.“

Auch Suchtexperte Julian Strizek, der als Wissenschafter für die Gesundheit Österreich GmbH arbeitet, blickt in andere Länder: „In nordeuropäischen und angelsächsischen Staaten und zunehmend auch in Papieren der WHO dominiert eine alkoholkritische Position, die jeglichen Konsum problematisiert, vorwiegend auf eine Verringerung der Verfügbarkeit abzielt (Besteuerung, Öffnungszeiten, Werbung) und explizit die Reduktion des Pro-Kopf-Konsums zum primären Ziel hat. Kritisch anzumerken ist dabei, dass eine ausschließliche Verringerung der Verfügbarkeit aber nicht zugrundeliegende Probleme löst, wenn zum Beispiel Alkoholkonsum im Sinne einer vermeintlichen Selbstmedikation aufgrund psychosozialer Probleme stattfindet.“ Die Österreichische ARGE Suchtvorbeugung hat 20 Empfehlungen zur Förderung eines verantwortungsvollen Umgangs mit Alkohol in Österreich formuliert, die einen Mix aus verhaltenspräventiven – wie Lebenskompetenzförderung – und gesetzlichen Maßnahmen – wie die Ausweitung von Informationsverpflichtungen auf alkoholischen Getränken – umfassen. Strizek: „In Österreich wird zudem das Europäische Präventionscurriculum (EUPC)angeboten, an dem auch Entscheidungsträger der öffentlichen Verwaltung in Österreich teilnehmen können und das als Fortbildungs- und Vernetzungsinitiative dazu beitragen soll, sinnvolle und wirksame Präventionsmaßnahmen bekannter zu machen.“
Prävention ist der große Schlüssel für ein weniger alkoholkrankes Österreich, wo der Behandlungsfokus aber mehr auf einer Reparaturmedizin als auf gezielten Investitionen in eine Präventionsmedizin liegt.
 
Politische Schritte. Wirksame politische Schritte zu setzen, um aus Österreich ein weniger hochriskantes Alkoholland zu machen, scheint längst das Gebot der Stunden zu sein. Dafür müssten die Verantwortlichen sich aber auch der Verantwortung bewusstwerden, die in jedem Adabei- oder Wahlparty-Foto mit Weinglas steckt. Und sie müssten Modelle konkret beziehungsweise in Gesetzesform durchdeklinieren, die längst am Tisch liegen. „Eine bewusste Preisgestaltung für Alkohol wirkt suchtpräventiv. Ein hoher Preis senkt den Konsum, ein niedriger Preis steigert ihn. Auch das Andenken höherer Steuern, die das Gefährdungspotenzial widerspiegeln, sollte hier kein Tabu sein. Werbung für Alkohol regt ebenfalls den Konsum an.
Derzeit hat Österreich ein Verbot von Spirituosenwerbung im Fernsehen und Radio. Eine Ausweitung auf alle alkoholischen Getränke und auf alle Formen von Medien wäre sinnvoll“, zählt Claudia Kahr gegenüber public naheliegend wirksame Maßnahmen auf, spannt die Möglichkeiten „der Politik“ aber viel weiter, indem sie auf Studien hinweist, die zeigen, dass psychosozialen Belastungen, die unter Arbeitslosigkeit und Armut auftreten, problematischen Alkoholkonsum begünstigen. Integrative Angebote am Arbeitsmarkt, die Anhebung von wohlfahrtsstaatlichen Transferleistungen oder die Verstärkung des sozialen Wohnungsbaus können, so Kahr, problematischen Alkoholkonsum reduzieren.
„Auch Gemeinden sind gefordert: etwa indem beim Stadtfest Alkohol wenig zentral und in kleinen Gebinden dafür viele attraktive, kostengünstige alkoholfreie Getränke angeboten werden. Auf Flatrate-Angebote und die allgegenwärtige Sichtbarkeit von Alkohol ist zu verzichten. Ein wirksamer Jugendschutz inklusive Kontrollen, zum Beispiel durch Armbänder zur Alterskontrolle, sollte selbstverständlich sein“, nimmt sie schließlich auch die Gemeinden in die Pflicht.

Es gibt nun mal gute Gründe dafür, dass keine der großen Gesundheitsorganisationen jemals eine Empfehlung für ein risikofreies Mindestmaß an Alkoholkonsum festgelegt hat. Das Achterl in Ehren hin oder her.