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Klein-Murmansk

1993 wurde die Barentsregion mit der ersten Kirkenes-deklaration als politisches Konstrukt ins Leben gerufen. Heute kommen sich Norweger und Russen dort immer näher.
Von Agnes Bührig, Kirkenes/Norwegen

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Das nordnorwegische Kirkenes wird nur durch ein kleines Stück Barentssee von Russland getrennt.
Bildnachweis: Google-Map

Das Quecksilber ist unter den Gefrierpunkt gefallen, um die kleine hölzerne Grenzstation Storskog bei Kirkenes nur Eis und Schnee, so weit das Auge reicht. An der norwegischen Grenze zu Russland hat sich an diesem frostkalten Morgen eine lange Schlange von Autos gebildet, die auf die Einreise warten. Es sind Russen von der Halbinsel Kola und aus der arktischen Metropole Murmansk. Vor allem zum Einkaufen kommen sie nach Norwegen, erzählt Sergej Antonov, der regelmäßig Fahrgäste zwischen den beiden Ländern hin- und herkutschiert: „Ich arbeite seit 15 Jahren als Taxifahrer. Seit vor ein paar Jahren ein neues Visum eingeführt wurde, ist die Grenzpassage einfacher geworden. Ich muss jetzt keine Einladung mehr vorlegen, wenn ich nach Norwegen will. Das Visum gilt drei Jahre und muss nicht für jede Strecke erneuert werden.“

Vitalität und Stabilität

Der Grenzverkehr nimmt stetig zu. Knapp 200.000 Passagen zählten die Norweger in Storskog im vergangenen Jahr, knapp ein Viertel mehr als im Jahr davor. Der Grenzhandel blüht, Zigaretten und Alkohol aus dem Osten, Kaffee aus dem Westen sind beliebt. Seit im letzten Jahr ein vier Jahrzehnte währender Streit über den Verlauf der Grenze in der Barentssee beigelegt wurde, besteht zudem Planungssicherheit für die Ausbeutung von Bodenschätzen.

Im Jänner meldete der norwegische Energiekonzern Statoil den zweiten großen Ölfund vor der norwegischen Küste innerhalb von neun Monaten. Bei Lokalpolitikern nährt dies die Hoffnung auf wirtschaftliche Belebung im Norden. Und auf mehr Stabilität in der Region, sagt Rune Rafaelsen, Leiter des Barentssekretariates, das den Austausch zwischen Norwegern und Russen fördert: „Die wichtigste Garantie für Stabilität in dieser Region, das sind die großen gemeinsamen Industrieprojekte. Nord Stream, die Gasleitung, die Russland und Deutschland durch die Ostsee verlegt haben, ist dafür ein gutes Beispiel. So etwas würde ich gern auch hier im Norden sehen.“

Völkerverständigung

Das staatliche Barentssekretariat ist Motor der Zusammenarbeit auf politischer Ebene. Finanziert vom norwegischen Außenministerium, fördert es Grenzprojekte wie das Kulturfestival Barentsspektakel, das Künstler aus Norwegen, Finnland und Russland zusammenbringt – und Sprache und Kultur der Urbevölkerung der Saami im Grenzgebiet unterstützt. Umgerechnet eine halbe Milliarde Euro hat Norwegen seit dem Start der Barentszusammenarbeit vor fast 20 Jahren dafür ausgegeben.

Zum Sekretariat gehört auch die Internetzeitschrift Barentsobserver. Norwegische Redakteure und Kollegen in Büros auf der russischen Seite berichten auf Englisch über die Entwicklung in der Region. Die Themen seien vielfältig, sagt Herausgeber Thomas Nilsen: „Wir berichten, was in Nordeuropa und Nordwestrussland passiert, sowohl für europäische als auch russische Leser. Kultur und Völkerverständigung sind der Grundstein der positiven Entwicklung der letzten 20 Jahre. Was Olga und Ivan, Ola und Karin machen, wie die Zusammenarbeit funktioniert, das ist unser täglich Brot.“

Russnorwegisch

Vor bald 20 Jahren also war die Barentsregion mit der ersten Kirkenesdeklaration ein politisches Konstrukt. Heute ist die stärkere Zusammenarbeit zwischen den nordischen Staaten und Russland Wirklichkeit. In Kirkenes ist der russische Einfluss deutlich zu spüren. Mittlerweile sind 15 Prozent der Einwohner der Stadt russisch. Die Straßennamen sind auf Norwegisch und Russisch, im modernen Einkaufszentrum hört man ein munteres Sprachgemisch.

Viele Verkäufer seien zweisprachig, erzählt Jana Jalovskaja. Die 26-Jährige ist gebürtige Russin und zog mit ihrer Mutter vor zehn Jahren nach Westen. Sie leitet ein Modegeschäft: „70 Prozent unserer Kunden sind Russen, denn die Preise hier sind niedriger als in Russland, vor allem für Kleider und Essen. Wenn ich als Geschäftsführerin Personal brauche, suche ich immer zweisprachige Verkäufer. Die finde ich problemlos in Kirkenes, das auch als Klein-Murmansk bezeichnet wird. Jeder Dritte, den ich treffe, ist russisch.“

Noch einige Stolpersteine

Vor allem in serviceorientierten Branchen wie der Gastronomie und dem Hotelwesen haben deutlich mehr als die Hälfte der Unternehmen auf norwegischer Seite russische Mitarbeiter. Das liegt am Einkaufstourismus, der Richtung Norwegen sehr viel stärker ist als in die umgekehrte Richtung. Zudem werden Ingenieure für die Bereiche Bergbau und Ölindustrie gesucht. Doch es gibt auch noch etliche Hürden zu überwinden, so hat es auch Svein Ruud erfahren. Der Norweger leitet einen fischverarbeitenden Betrieb. Als er jüngst Arbeitnehmer aus Russland gefunden hatte, erwies sich der Weg zur Arbeitserlaubnis als lang und steinig. Die Gründe liegen auf der Hand, sagt Ruud: „Vor 20 Jahren war Russland ein geschlossenes Land. Der Grenzübertritt war in dieser Region undenkbar, sowohl was Touristen, Freunde oder Arbeitskräfte angeht. Das hat seine Auswirkungen bis heute. Zum anderen ist das politische Oslo dafür zuständig, die bürokratischen Hürden abzubauen. Und dort sieht man die Möglichkeiten und Vorteile nicht, die wir von der Arbeitskrafteinwanderung aus Russland hier im Norden haben.“

In der Grenzstation Storskog ist inzwischen der Wochenendverkehr in Gang gekommen. Stationschef Thorstein Pettersen verfolgt von seinem Büro aus, wie die Blechlawine an der Zollstation vorbeirollt. Zweimal täglich treffen sich die Grenzer beider Länder am Schlagbaum – und sagen sich guten Morgen und gute Nacht: „Wir treffen uns alle drei Monate und tauschen uns über die aktuellen Entwicklungen aus. Da kann es um das Thema Kriminalität oder um so banale Dinge wie die russischen Feiertage gehen, die mehr Verkehr bedeuten. Die Zusammenarbeit mit den Russen läuft immer besser.“