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Kinder und Karriere

Für manche ist Norwegen ein Musterbeispiel, wie Familienpolitik funktionieren soll. Nirgendwo sind so viele Frauen berufstätig – und doch ist die Kinderzahl seit Jahren eine der höchsten Europas. Wie schaffen die Norweger den Spagat, der anderswo unmöglich scheint?

Von Michael de Wird

Auf jeden Fall kann die Emanzipation in Norwegen auf eine lange Tradition zurückblicken. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts fanden erste Frauenstreiks statt. 1913 bekamen die Norwegerinnen das vollständige Wahlrecht. 1978 wurde die weltweit erste Frauenvolksanwältin ernannt. Wenn jedoch eine Person Norwegens Rolle als Emanzipations-Vorzeigeland geprägt hat, ist das die langjährige Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland. 1986 erstaunte Brundtland die Welt mit ihrer „Frauenregierung“, in der acht von achtzehn Ministern Frauen waren – damals ein sensationeller Weltrekord.

Auffällig war außerdem, dass Brundtland – selbst vierfache Mutter – die Einführung von Gratiskindergärten zu einem ihrer zentralen Wahlkampfthemen gemacht hatte. In einer Hinsicht war der Zeitpunkt dafür günstig. Durch das Öl aus der Nordsee verfügte Norwegen über eine solide finanzielle Basis für eine progressive Sozialpolitik. Noch immer ist es der sechstgrößte Erdölexporteur und zweitgrößte Gasexporteur der Welt.

Kinder zeichnen aus

Norwegen investiert viel Geld in den Nachwuchs. Neben steuerlichen Vorteilen beziehen die Eltern für jedes Kind bis zum 18. Lebensjahr 127 Euro pro Monat, alleinerziehende Mütter oder Väter das Doppelte. In den ersten zehn Monaten nach der Geburt werden die Gehälter zu 100 Prozent weiter bezahlt, wobei Väter mindestens zwölf Wochen in Karenz gehen müssen. Wer nachher sein Kind selbst betreuen will, bekommt 410 Euro im Monat. Und vor allem gibt es eine nahezu flächendeckende Versorgung mit Kindergärten und Ganztagsschulen. 87 Prozent der Kinder zwischen dem ersten und fünften Lebensjahr besuchen einen Kindergarten.

Für die gebürtige Rumänin Emilia Thingbo war es am Anfang ungewohnt, ihre Tochter in einen Kindergarten zu geben. Inzwischen ist sie begeistert über die professionelle Kinderbetreuung: „Ich würde sicher keinen so guten Job machen wie die Erzieherinnen.“ In ihrer Umgebung gibt es momentan einen Trend zum vierten Kind: „Das hat auch etwas mit Status zu tun. Eine Frau, die vier Kinder hat und arbeitet, muss eine sehr starke Frau sein.“ Auch in der Chefetage haben fast alle Frauen Kinder.

Im Reich der Goldröcke

2003 ergriff die damalige Regierung eine radikale Maßnahme, um die Zahl der Frauen in Spitzenpositionen zu erhöhen. 40 Prozent der Aufsichtsräte sollten künftig Frauen sein. Obwohl das Gesetz von fast allen Parteien unterstützt wurde, war es vor allem in Arbeitgeberkreisen umstritten. Und es ist auch die Frage, was es bewirkt hat. Laut Kritikern würde in Wirklichkeit nur eine beschränkte Zahl von Frauen – die sogenannten „Goldröcke“ (Gullskjørtene) – immer mehr Aufsichtsratspositionen übernehmen. Allen Maßnahmen zum Trotz verdienen die Norwegerinnen im Durchschnitt 16 Prozent weniger als ihre männlichen Landsleute. Der wichtigste Grund hierfür ist die Tendenz zur Teilzeitarbeit.

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Kinder- und Gleichstellungsministerin Inga Marte Thorkildsen sieht in der Teilzeitarbeit große gesellschaftliche und ökonomische Nachteile für Frauen. Sie plädiert dafür, den normalen Arbeitstag auf sechs Stunden zu senken.

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Inga Marte Thorkildsen, die Kinder- und Gleichstellungsministerin, betrachtet diese darum als eine Falle für die Frauen: „Man kann natürlich sagen, dass es gleich wertvoll ist, zu Hause bei den Kindern zu bleiben wie arbeiten zu gehen, aber das ist es nicht. Man braucht nur zu sehen, dass Macht und Status in der Gesellschaft verbunden sind mit Arbeit. Wir sollten darüber diskutieren, entweder einen Sechsstunden-Arbeitstag einzuführen oder auf andere Art die Arbeitszeit zu reduzieren, statt dass die Frauen den Preis für ein Familienleben bezahlen.“

Vollzeitarbeit

Vor einigen Wochen wurde die Diskussion zu einem Flächenbrand durch ein Interview mit Gerd Kristiansen, der Vorsitzenden der norwegischen Gewerkschaft. Die ehemalige Fischerin und Krankenschwester – und fünffache Mutter – zeigte darin wenig Sympathie für Frauen, die Teilzeit arbeiten: „Unsere Gesellschaft ist danach ausgerichtet, dass die gesamte Bevölkerung Vollzeit arbeitet. Wir haben eine umfassende Abdeckung durch Kindergärten, Kinderbetreuungen und Ganztagsschulen. Und dafür gibt es einen Grund – nämlich den Bedarf nach Arbeit. Man verzichtet auf etwas, wenn man Vollzeit arbeitet, aber insgesamt ist man nicht mehr als 37,5 Stunden pro Woche am Arbeitsplatz. Das ist nur etwas mehr als ein 24-Stunden-Tag.“

Die Aussagen riefen heftige Proteste der bürgerlichen Opposition hervor. Laut Knut Arild Hareide, dem Vorsitzenden der Christlichen Volkspartei, würde Kristiansen die Menschen auf Produktionseinheiten reduzieren: „Sie vergisst, dass Kinder und Familien verschieden sind und unterschiedliche Lösungen brauchen.“ Und es ist auffällig, dass gerade in letzter Zeit einige Bücher von Frauen erschienen sind, die sich selbst als Feministinnen bezeichnen, aber den Zwang zur Vollzeitarbeit als eine neue Form von Unterdrückung betrachten.

Gleichstellungs(un)glück?

„Gleichstellungspolitik muss auf dem Alltag der Leute beruhen. Die Wirklichkeit ist, man kann nicht mindestens siebeneinhalb Stunden am Tag arbeiten, ohne dass wichtige Werte darunter leiden“, meint Kristin Briseid, die Autorin von Likestillingslykke (Gleichstellungsglück). Ähnlich sieht es Karinne Gamkinn in ihrem Buch Beklager, jeg må være mamma (Ich bedaure, ich muss Mama sein): „Es ist Zeit, den Feminismus neu zu definieren. Feminismus ist nicht gleich volle Arbeitszeit und volle Kindergärten … Wir sind so gleichgestellt, wie es nur geht. Jetzt sollten wir Zeit für die Kinder zurückbekommen!“

Ist die norwegische Situation vielleicht doch nicht so rosig, wie es scheint? Oder ist die Debatte ein Luxus, den sich andere Länder noch gar nicht leisten können? Die Tatsache bleibt, dass Norwegen trotz oder wegen seines „Staatsfeminismus“ ein Land der Kinder geblieben ist.