Was deutsche Kommunen vom „Grazer Weg“ lernen können
Wer kennt es nicht: In der Theorie klingt vieles schlüssig und klar, erst bei der Umsetzung beginnen dann die Fragen und Herausforderungen. Nicht anders ist es bei der Anwendung des Konzepts der Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe. Dass Kinder und Jugendliche ressourcen- und willensorientiert in ihrer Lebenswelt unterstützt und nicht wie „Fälle“ behandelt werden und dass Vertreter von freien Trägern und der Kommunalverwaltung auf Augenhöhe zusammenarbeiten, klingt schlüssig. Doch ist das auch in der kommunalen Praxis so einfach umsetzbar? Erfordert es doch ein systematisches Umdenken im herkömmlichen Verwaltungsdenken.
Neue Wege in der Kinder- und Jugendwohlfahrt
Um mehr über die Chancen und Herausforderungen in solch einem Umsetzungsprozess zu erfahren, organisierte die Bertelsmann Stiftung jetzt für 14 interessierte Beschäftigte aus deutschen Kommunalverwaltungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen eine Studienreise in die Stadt Graz. Das Grazer Amt für Jugend und Familie arbeitet 2017 bereits 100 Jahre in der Kinder- und Jugendwohlfahrt, und versucht die besten Lösungen für die betroffenen Familien zu finden. Die Hauptstadt der Steiermark setzt das Konzept der Sozialraumorientierung seit 2004 Schritt für Schritt für das Feld der Kinder- und Jugendhilfe um. Dabei wird sie seit Beginn an von Prof. Dr. Wolfgang Hinte, einem renommierten Experten für Sozialraumorientierung der Universität Duisburg-Essen, unterstützt. Passgenaue Hilfen für Kinder und Jugendliche statt wie früher Einheitsleistungen „von der Stange". Es wird sich an den Stärken und Ressourcen der jungen Menschen orientiert und ihr gesamtes Lebens- und Wohnumfeld eingebunden. Es soll den Betroffenen ermöglicht werden, besser mit schwierigen Situationen umzugehen. Kinder, Jugendliche und Familien bekommen benötigte Hilfe möglichst auf ihre individuellen Bedürfnisse abgestimmt. Gefördert werden die Selbsthilfekräfte unter Einbeziehung der Möglichkeiten des Lebens- und Wohnumfeldes der Menschen, durch die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen und Vereinen im Sozialraum.
Vier Sozialeinrichtungen
Mittels unterschiedlicher Gespräche und Vor-Ort-Besuchen in den vier Sozialeinrichtungen von Graz erhielt die Gruppe ein facettenreiches Bild vom „Grazer Weg“. Die Referenten, u.a. die Controllerin des Jugendamts, ein Führungs-Duo (regionaler Jugendamtsleiter + Sozialraumkoordinator seitens des Trägerverbundes), die Abteilungsleiterin, der Magistratsdirektor und der zuständige Stadtrat illustrierten in ihren Ausführungen nicht nur jene Punkte, die gut gelaufen waren, sondern auch jene, die schief gegangen waren im Prozess und die jeweiligen Gründe.
Zeit zum Ausprobieren
Als zentrale Learnings von ihrem Besuch in Graz nahm die Delegation aus Deutschland mit, dass die Haltung der Verantwortlichen aus Verwaltung und freien Trägern zum Vorhaben entscheidend ist und dass so ein Prozess bei allem Gegenwind und Rückschlägen Zeit benötigt – diese Zeit zum Ausprobieren und Ausjustieren gilt es vor allem Seitens der kommunalen Politik zu ermöglichen. Für die freien Träger änderte sich mit der Einführung des Konzepts vor allem zweierlei: Untereinander agieren sie im jeweiligen Sozialraum nun in sogenannten Trägerverbänden, gegenüber der Verwaltung haben sie in Entscheidungsprozessen an Augenhöhe gewonnen.
Im Austausch bleiben
Der Austausch über die Landesgrenzen hinweg wurde von den Beteiligten aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft beiderseitig als sehr fruchtbar empfunden, so dass einige Teilnehmer auch nach der Studienreise länderübergreifend in Kontakt bleiben wollen, um sich über kommunale Themen und die jeweiligen Erfahrungen dazu auszutauschen.
Im Austausch bleiben wird die Bertelsmann Stiftung auch mit dem Land Steiermark. So arbeitet die Stiftung bereits seit einigen Jahren praxisbasiert – in Kooperation mit deutschen Kommunen – zum Bereich der „Frühen Hilfen“. An diesen Erfahrungen wiederum ist das Land Steiermark sehr interessiert.
INFO: Der Grazer Weg der Sozialraumorientierung
Passgenaue Hilfen für Kinder und Jugendliche statt wie früher Einheitsleistungen „von der Stange".
Graz hat sich als erste Stadt in Österreich dazu entschlossen, das Fachkonzept der Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe umzusetzen und geht damit einen neuen Weg in der sozialen Arbeit.
Um Familien wohnortnah und flexibel unterstützen zu können, wurde das Grazer Stadtgebiet in vier Regionen (sog. Sozialräume bzw. Jugendämter, die jeweils mehrere Stadtbezirke umfassen) aufgeteilt. Herzstück jedes der vier Sozialräume ist das Sozialraumzentrum, das die Aufgaben des Jugendamtes für die jeweiligen Bezirke wahrnimmt. Sozialraumorientierung Graz